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r o ß v a t e r s E r l e b n i s s e
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Schwere Kriegsjahrehinter uns. Wir
hatten, die jedoch in ihrer Auswirkung nicht an die
Zeiten von 1939 / 45 heranreichten, gelernt, unsere
Lebensansprüche recht tief zu schrauben und waren schon
zufrieden, wenn uns der Magen nicht zu sehr anknurrte.
Wenn dann das Licht gespart werden
musste und wir im Familien- und Freundeskreise gemütlich
beieinander saßen; wenn das aufloderne Herdfeuer
spielende Ringe an Decken und Wände zeichnete, erzählte
ich oft aus der Vergangenheit.
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Auch heute wurde ich gebeten,
die Schummerstunde in dieser Weise angenehm zu
verkürzen.
Die Zuhörer waren dann ganz Ohr und von dem
Gehörten meist so erbaut, dass sie mir
und das nicht zum ersten Male nahelegten,
meine Erlebnisse in Buchform wiederzugeben.Erst
auf das Bitten meiner Eheliebsten gebe ich diesem
Wunsche nach und bringe die Plaudereien langer
Winterabende in Buchform zum Besten.
Schon meine Großeltern hatten einen harten
Lebenskampf zu bestehen gehabt. In den vierziger
Jahren des vergangenen Jahrhunderts (19.
Jahrhundert) lebte mein Großvater als Organist
und Lehrer in Lotzen, Kreis Landsberg a./W..
Widerwärtigkeiten trieben ihn nach Russland, wo
er als Hauslehrer bei einem dortigen Fürsten
tätig war.
Zeichnung: Ursula Riekenberg |
Sein Freigeist, der doch so wenig in
die damalige Zeit passte, muss ihn mit dem damaligen
Sibirien bekannt gemacht haben, denn ich konnte trotz
aller Nachforschungen nicht über seinen Verbleib
erfahren. Vom Großvater haben wir Geschwister nie etwas
erfahren. Die Großmutter reiste nach Königsberg und
ließ ihren einzigen Jungen in Lübben, im Spreewald, als
Kammmacherlehrling zurück.
Mein Vater, von seinen Eltern
verlassen, wurde bei fremden Menschen erzogen. Später
setzte er sich in meiner Heimatstadt Merseburg fest und
kam infolge seiner guten Kenntnisse zum Verwaltungsdienst
der Regierung.
Ich selbst beehrte als zweites Kind
die Welt im allgemeinen und meine Eltern im besonderen
mit meinem Dasein.
Merseburg ist eine über
tausendjährige alte Stadt, am schönen Saalestrand
gelegen und hatte seinerzeit nur etwa sechzehntausend
Einwohner.
Winklige Straßen und schmale Gassen
durchziehen nach dem Marktplatze zu die Stadt.
Jahrhunderte alte Gebäude mit Spitzgiebeln und
Verschnörkelungen versehen, zeugen von vergangenen Tagen.
Der vielhundertjährige Dom mit dem Schlosse und das alte
Rathaus bergen noch heute viele architektonische
Kunstschätze. Selbst der verheerende Bombenkrieg hat
noch manche Sehenswürdigkeiten übriggelassen.
Zu meiner Zeit, in den achtziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts, ging der Nachtwächter
mit Laterne, Spieß und Horn durch die Straßen und blies
die Zeiten aus.
Um acht Uhr abends ertönte vom
Stadtturm nach allen Seiten ein Choral. Das war für uns
Kinder ein Zeichen zum Schlafengehen.
Der Türmer überwachte von seinem
hohen Posten aus die schlummernde Stadt, wobei ihm seine
Frau behilflich sein musste, war er doch seines Zeichens
auch noch Schuhmacher. Wir Kinder gingen gern zu ihm. Wir
mussten dann erst an einem sechzig Meter langen Drahtzug
klingeln. Der Türmer lies den Schlüssel herunter und
wir konnten über zweihundert Stufen hoch klettern und
die herrliche Aussicht genießen.
Oft schon am frühen Morgen weckte
fröhliche Marschmusik die Bewohner der Stadt. Die
Blauen Husaren in ihren pelzverbrämten
Uniformen und schwarzweißen Haarbüscheln auf den
Tschakos, zogen zu Übungen aus.
Die Geschäfte waren von morgens
sechs bis abends zehn Uhr geöffnet. Sonntagsruhe galt
noch lange Zeit als Fremdwort, wenigstens für die
arbeitenden Klassen.
Die Geschäfte erkannte man schon
von weitem an den heraushängenden Zunftzeichen wie:
Schweineköpfen, Brezeln, Zuckerhüten, Schlüsseln,
Zylindern, Schuhen und anderen.
Und die Menschen? Die waren anders
als heute, ganz anders! Das lag an dem Charakter der
Stadt, die schon vor Jahrhunderten Bischofssitz und
Beamtenstadt war. Es war noch die Zeit der Herren und
Knechte, in der die Menschen erst beim Akademiker und
Offizier anfingen. Auch der Bürgerstand beanspruchte
gewisse Vorrechte. Wehe den Geschäftsleuten, die sich in
der Anrede ihrer Kunden nicht zurechtfanden und etwa die
Frau Fischer mit ihrem Namen ansprach, anstatt mit Frau
Postsekretär, der doch nur ihr Mann war. Solche
Geschäftsleute hatten nur wenige Kunden.
Selbst in der Arbeiterschaft galt
der gelernte Arbeiter mehr als der ungelernte.
Das überzüchtete
Standesbewusstsein und der Kastengeist trieb seine
Blüten soweit, dass selbst im Vereins- und
Gesellschaftswesen strenge Grenzen gezogen wurden.
Zur Ehre meiner Geburtsstadt sei es
aber gesagt, ganz so schlimm ist es heute nicht mehr. Die
furchtbaren Zeiten der beiden Weltkriege sind nicht
spurlos an ihr vorübergegangen.
Meine Erinnerungen reichen
bis in das fünfte Lebensjahr zurück. Allerdings war
dabei die Gefahr des Ertrinkens vorhanden.
Eine nette Erinnerung ist meine Einschulung.
Als ich vor den Lehrer trat, fragte
mich dieser: Na Kleiner, wie heißt Du denn?.
Strahlend nannte ich meinen Namen und gleich die Wohnung
dazu. Wann bist Du denn geboren?. Das war
schon schwieriger zu beantworten: Im Frühling.
sagte ich geradehin. Die Erwachsenen lächelten ob dieser
Umgehung der Frage. Was ist denn Dein Vater?.
Kurzes Überlegen, dann die sehr überzeugte Antwort:
Handwerksbursche!. Da gab es aber ein lautes
Gelächter auf allen Seiten, das ich gar nicht verstehen
konnte, hatte Vater doch immer von sich erzählt, dass er
einst Handwerksbursche war. Das musste doch auch etwas
sehr schönes sein.
Da die ABC-Schützen nach dem
Auffassungsvermögen gesetzt wurden, kam ich in eine der
mittelsten Bänke. Es war also immer noch glimpflich
abgegangen.
Bald nach der Einschulung machte ich
mit einem Klassenkameraden und einem etwa fünfjährigen
Mädchen einen Spaziergang nach dem Saalewehr. Beim
Spielen in etwa fünfzig Meter Nähe des Wehres fiel die
kleine Freundin in die Saale, und vor Schreck rissen wir
Jungens aus. Zufällig war ein Schiffer in der Nähe und
konnte die Kleine noch rechtzeitig retten. Die verdiente
strenge Strafe blieb natürlich nicht aus.
Meine Eltern waren überstreng, und
wehe, wenn wir eine Ermahnung des Lehrers dem Vater zur
Kenntnis vorzulegen hatten. Unweigerlich und ohne
Rücksicht darauf, dass wir schon vom Lehrer persönlich
gezüchtigt worden waren, folgte noch eine strenge
väterliche Züchtigung, die nicht selten auf den nackten
Podex ausgeführt wurde.
In diesem Zusammenhange muss ich ein
Ereignis aus meiner Schulzeit berichten, das ich wegen
seiner seelischen Wirkung auf mich nicht vergessen konnte.
Im Deutsch, besonders aber im
deutschen Schriftsatz, war ich ein guter Schüler,
brachte jedoch die Quote selten auf gut.
Wieder einmal war ich versetzt
worden, - nicht immer ging das so glatt ab - , da bekam
ich in der neuen Klasse das Aufsatzthema: Steter
Tropfen höhlt den Stein zu bearbeiten. Der Aufsatz
war, wie üblich, vorher mit uns Schülern besprochen
worden, und ich ging mit allem Eifer an die Lösung der
Arbeit. Mit dem Erfolge war ich sehr zufrieden, nicht
aber der Lehrer. Als nach vierzehn Tagen die Aufsätze
zurückkamen, wurde der meine nicht mit vorgelesen. Das
war ein schlechtes Zeichen. Ungenügend stand
mit roter Tinte darunter geschrieben und als Zusatz die
Bemerkung: Aufsatz nicht selbst gefertigt, es
spricht die ersichtliche Mitwirkung eines Erwachsenen
daraus!. Der Lehrer nahm mich ins Gebet und
versprach mir Straffreiheit, wenn ich den Helfer nennen
würde. Wie gerne hätte ich das getan, um einer
Züchtigung durch den Lehrer zu entgehen, das war mir
aber nicht möglich, da ich den Aufsatz allein verfasst
hatte. So musste ich also eine unverdiente Züchtigung
anstelle einer ehrlich verdienten guten Quote hinnehmen.
Mit welchen Gefühlen ich den Heimweg antrat, brauche ich
wohl nicht zu erwähnen. Was der Lehrer mit roter Tinte
geschrieben hatte, war maßgebend für die Eltern, da gab
es gar kein Deuteln. Die doppelte Portion blieb auch
nicht aus, meine Beteuerungen der Wahrheit machten es nur
noch schlimmer. Vaters These lautete: Einmal mehr
ist immer noch besser, als einmal zu wenig!.
Eine Ehrenrettung, die die
Bestrafung jedoch nicht ungeschehen machte, wurde mir
aber doch noch zuteil. Am Stammtisch Zur alten
Post war mein Fall zur Aussprache
gekommen. Onkel Schön, einer der besten Menschen, dem
ich mein Leid geklagt hatte, hatte sich für mich
eingesetzt und führte ohne mein Wissen den
Wahrheitsbeweis durch. Dazu hatte sich ihm bald
Gelegenheit geboten.
Eines Tages kommt mir der
Pseudoonkel auf dem Schulwege entgegen und sagt:
Dicker! Naumann sein Hund hat Dir eines Deiner
besten Kaninchen tot gebissen und verschleppt. Das lässt
Du Dir nicht bieten. Es ist ein Kettenhund, der nicht
frei herumstromern darf. Er war auch ohne Maulkorb.
Schreibe dem Kaufmann einen geharnischten Brief und drohe
ihm mit dem Staatsanwalt, falls er Dir das Kaninchen
nicht ersetzt.
Meine Kaninchen waren mir mein alles.
Ich war dreizehn Jahre alt und gab dem Onkel meine
starken Bedenken wegen der Strafe zu verstehen, die ich
bestimmt vom Vater zu befürchten hatte. Onkel ließ
nicht locker und verbürgte sich für einen glatten
Verlauf der Sache.
Naumann hat ja viel zu viel
Angst vor dem Staatsanwalt sagte er zu mir, dabei
entnahm er eine Seite seines Notizbuches und notierte mir
die angeblichen Paragraphen. Vergiss die nicht zu
erwähnen, fügte er gewichtig hinzu, die
bringen den ganzen Erfolg!.
Ich konnte ja nicht wissen, dass die
ganze Geschichte schon zwischen dem Onkel und dem
Kaufmann verabredet war, um dann am Stammtische Zur
alten Post, dem auch der Lehrer angehörte,
Veranlassung zu einer lustigen und vielleicht auch
lehrreichen Unterhaltung zu werden.
Mein totes Kaninchen, die zu
erwartende Mark soviel sollte mir das Tier bringen
- , sowie die verbürgte Straffreiheit durch
den Onkel, gaben mir den Mut, und ich schrieb! Dazu
setzte ich mich in Onkel Schöns Photografisches
Atelier und ließ nach entsprechendem
Ansporn meinen ganzen Zorn gegen die
Leichtfertigkeit des Hundebesitzers und das Gebahren
seines verwilderten Hundes vom Stapel. Geholfen hat mir
niemand dabei; es wäre auch wirklich nicht nötig
gewesen. Wie mir Onkel Schön später mitteilte, hätte
die Stammtischrunde meine Urheberschaft noch heute
bezweifelt, wenn er sich nicht für die Wahrheit
eingesetzt hätte.
Geholfen hatte mir wiederum niemand,
es war auch nicht nötig. Ich gäbe gern etwas darum,
könnte ich den umstrittenen Schriftsatz zur Erheiterung
und Erbauung der Leser wiedergeben. Jedenfalls stand ich
glänzend gerechtfertigt da, denn Onkel Schön genoß das
größte Vertrauen aller, die ihn kannten; und er hatte
sich für mich verbürgt!
Schon am folgenden Tage hatte der
Kaufmann seinen Lehrling zu meinen Eltern geschickt und
mich zu sich ins Büro bestellt. Ich ging mit recht
gemischten Gefühlen zu ihm. Ob die Bürgschaft Onkel
Schöns auch den Kaufmann einbezog?
Wider Erwarten wurde ich recht
freundlich aufgenommen. Na Dicker! so wurde
ich seiner Zeit allgemein genannt, Es tut mir ja
sehr leid, dass Du auf solche Weise Dein schönes
Kaninchen losgeworden bist, aber so grob hättest Du doch
auch nicht gleich schreiben brauchen. Ich weiß ja, Du
hast das von Dir aus nicht getan, Du bist doch immer so
höflich. Da hat Dich jemand aufgehetzt und Dir den Brief
diktiert. Du kannst mir das ruhig anvertrauen, ich
verrate Dich nicht, und Du bekommst außer einer viel
schöneren Schecke noch zwei Mark extra!.
Nein, Herr Naumann, mir hat
bestimmt niemand geholfen! Ich habe mich nur so sehr
geärgert, weil es gerade mein bestes Kaninchen war, ich
wusste doch auch nicht, dass Sie mir so ohne weiteres ein
anderes Kaninchen geben würden, sonst wäre ich doch
gleich zu Ihnen gekommen!
Na, siehst Du Dicker, da hat
Dich doch jemand aufgehetzt, wer war denn das?
Onkel Schön hat mir nur
gesagt, Ihr Hund habe das Kaninchen tot gebissen und ich
könne es bezahlt verlangen, da Ihr Hund als Kettenhund
gemeldet sei und nicht ohne Maulkorb auf die Straße
laufen dürfe, sonst könnten Sie mit dem Staatsanwalt in
Berührung kommen.
Geschrieben habe ich das ganz alleine. Nur die
Paragraphen hat er mir angegeben, die konnte ich doch
nicht wissen!
Das konntest Du natürlich
nicht wissen. Ich kann aber kaum glauben, dass so ein
kleiner Gernegroß solch guten Briefstil hat!
Und ich habe deshalb schon
ungenügend in meinem letzten Aufsatz
erhalten und Schläge dazu, entgegnete ich
gekränkt.
Ich durfte mir nun einen Korb holen
und bekam mein Kaninchen gut ersetzt und noch eine Mark
dazu. Für mich stand es aber fest, solch ungehörigen
Brief würde ich nie wieder schreiben. Ich bin denn auch
mit Höflichkeit im ferneren Leben viel besser
ausgekommen.
Von sechs Geschwistern war ich der Jüngste und hatte mit
zwei Jahren, angeblich durch Schreck, einen Augenfehler
davongetragen.Ich fühlte mich von allen Menschen
unbeachtet und artete dann zum Rüpel aus.Mein liebes
Mütterchen habe ich viel geärgert, auch besaß ich
einen eidlichen Dickkopf-.- Meine bessere
Hälfte behauptet, ich hätte noch heute Kopfweite
58 -.
Als ich zur Schule kam,
schwoll das Köpfchen noch mehr an. Sollte ich einholen
gehen, musste ich widersprechen. Hatte der Inhalt des
Gurkenfasses oder Käsetopfes verdächtig abgenommen
wir waren neun Tischgäste und hatten stets einen
größeren Vorrat am Lager und Mutter forschte
nach dem Übeltäter, so stritt ich ab, auch wenn ich der
Bösewicht war. Die Prügel wurden dann oftmals verteilt
und fielen nicht allzu hart aus. Waren in der
Nachbarschaft Obstbäume geschüttelt oder gar
Fensterscheiben zertrümmert, so war ich wohl immer unter
den Verdächtigen, obwohl ich nur einige Male
dabei war. Kam ich aus der Schule und Mutter mahnte zu
den Schularbeiten, dann hatte ich bestimmt keine
auf. Draußen warteten ja schon die Schulfreunde
auf das Räuber- und Gendarmenspiel. Wie
lockte da Feld, Flur und Wald. Anderntags wurden dann die
Schularbeiten in den Pausen verglichen, wobei die
Mitschüler die Ergebnisse ansagen mussten, während ich
Faulpelz diese als mein Resultat notierte.
Kamen dies Sünden an
den Tag, und das war oft der Fall, dann gab es Prügel.
Erst vom Lehrer, dann wegen Lügens von der Mutter, und
wenn Vater abends nach Hause kam, nochmals von diesem. Da
waren die Schwielen, oft aufgeplatzt, - geholfen hat es
nichts.
Die schlimmsten Prügel, nach denen
ich fast 14 Tage nicht sitzen konnte, hatte mir folgende
Unart eingebracht:
Mein Bruder Richard und ich hatten neue Tiroler
Hüte bekommen und führten diese stolz auf einem
Spaziergang zur Saale aus. Unterwegs neckte mich mein
Brüderlein und stieß mir den Hut vom Kopfe. Der Hut
fiel in das Gebüsch des Saaleufers und blieb dort liegen,
da keiner von uns Rüpeln den Hut aufheben wollte.
Wir kamen nach Hause und ich klagte
mein Leid der Mutter. Da bekam der Knüppel
Arbeit und Mutter prügelte uns die Treppe hinunter bis
auf die Straße. Wie konnten wir da laufen.
Am Saaleufer angelangt, war der Hut
verschwunden. Den Heimweg von etwa 1 Kilometer legten wir
in einem Rekordtempo von 2 3 Stunden
zurück. Was uns bevorstand, war uns klar, wir hatten das
Strafmass noch unterschätzt.
Unbarmherzig sauste der Rohrstock auf den nackten Hintern
bis es auch der Mutter zu viel wurde und sie den Vater um
Nachsicht bat.
Wie oft in meinem späteren Leben
habe ich mir bittere Vorwürfe gemacht über alle diese
Unarten und wie glücklich war ich, wie ich den Eltern in
ihrem hohen Alter - sie starben mit 84 und 86 Jahren
so manches Gute erweisen und Ihnen den Lebensabend
so recht verschönern konnte.
Seit meiner Schulentlassung hatte
ich mich innerlich sehr zu meinem Vorteil geändert, wenn
auch der Rüpel noch manches Mal zum Durchbruch kam.
Als meine Eltern schon hochbetagt
waren, fragte ich einmal meinen Vater, warum er uns als
Kinder so furchtbar bestraft habe; da bekam ich folgende
drastische Antwort: Ja, mein lieber Junge, jetzt
kann ich Dirs ja anvertrauen. Ich bin so gut wie
ohne Eltern erzogen worden. Der Vater in Russland
verschollen, die Mutter in Königsberg in Ostpreußen,
ich selbst wurde bei Verwandten im Spreewald hin- und
hergeschoben, lieblos und liebeleer. Da bin ich denn ein
richtiger Strolch geworden. Damit Ihr nun
nicht in meinen Fußstapfen wandeln solltet, habe ich
Euch so streng gehalten!
Vater berichtete mir anschließend
die größte Freveltat seiner Jugend, die ich
den lieben Lesern nicht vorenthalten möchte:
Ich war zu einem weitläufigen Verwandten im
Spreewald in die Kammmacherlehre gekommen,
erzählte mein Vater, und wurde wie das in
früheren Zeiten üblich war, mehr mit Kinderwarten,
Wegelaufen, Schuheputzen, Strasse-, Hof- und
Ställereinigen als in meinem Handwerk beschäftigt.
Schläge gabs bald mehr als zu essen, so dass ich
große Sehnsucht nach meiner in Königsberg lebenden
Mutter bekam. Ich hatte lange Zeit nichts von ihr gehört.
An wen sollte ich mich aber sonst in meiner Seelennot
wenden?
Es war an einem schönen Herbsttage,
die Natur hatte die Blätter in allen Schattierungen vom
Zitronengelb bis ins Rostrot gezeichnet, leichter Wind
rauschte durch die Bäume und schüttelte seine
vergängliche Farbenpracht zu Erde, da musste ich wieder
einmal die Kinder der Meistersleute ausführen.
Das Jüngste war etwa ein Jahr alt und lag noch im Wagen.
Unterwegs traf uns der Pfarrer, ein
alter, freundlicher, ehrwürdiger Mann. Er war auf dem
Wege zu einer Schwerkranken und fragte mich, wie schon so
manches Mal, nach Vater und Mutter. Ich konnte ihm nur
berichten, dass ich von beiden nichts wisse. Seine lieben
mitfühlenden Worte erweckten in mir erneut
Sehnsuchtsgefühle.
Tränen stahlen sich über die
Wangen, der Pfarrer war weitergegangen, ich achtete kaum
noch auf die mir anvertrauten Kinder. Eine Schar
Zugvögel flog auf dem Wege in ihre wärmere Heimat über
uns hinweg, dem sonnigen Süden zu. Ging es nicht manchen
dieser jungen Vögel wie mir? Blieben da nicht auch
welche zurück, die zu schwach waren und von Ihren Eltern
verlassen werden mussten?
Nein, ich war nicht zu schwach, ich
musste meine Mutter wiedersehen! Herzzerbrechend weinend,
von den spielendenden Kindern unbeachtet, ließ ich mich
am Waldrand nieder. Wenn doch die lieben Mutterhände
mich streicheln und trösten könnten.
Ein jäher Windstoß riss mich aus
meinen Träumen, graue Wollen, die über die
Sonnenscheibe zogen und den Glanz der Erde trübten,
erinnerten mich an den Heimweg.
Seelisch zermürbt brachte ich die
mir anvertrauten Kinder zurück. Kaum saß ich auf dem
Werkstattschemel, als die Meisterin kam und loszeterte:
Du fauler Hund, hast wohl vor Spielerei nicht mal
so viel Zeit gehabt, nach der Kleenen zu sehen, die liegt
ja bis an den Hals im Dreck, Dir müsste man die Windeln
um die Ohren schlagen.
Das war kein Balsam auf meine Wunden
und wurde mir zu viel. Der Meister war auf
Kundschaft, und so antwortete ich derb flegelhaft:
Na, ich bins doch nicht gewesen, wenn ich das
gemacht hätte, wärs mehr geworden!
Natürlich erhielt ich nach der Rückkehr des Meisters
meine Prügel und durfte nach kargem Abendessen zu Bett
gehen.
Da lag ich nun wach und beschloss, sobald wie möglich,
meine Lehre zu verlassen und die Mutter aufzusuchen.
Das war sehr gewagt. Es gab fast
noch keine Eisenbahnen, Geld hatte ich auch nicht und so
an die 700 Kilometer sollten es bis Königsberg sein. Es
war wohl doch nicht möglich -, wie sollte ich auch
fortkommen?
Schneller als gedacht sollte mein Traum in Erfüllung
gehen.
Die Meistersleute waren zu einem
Vergnügen eingeladen, und ich hatte, wie stets in
solchen Fällen, anstatt mein Bett hinter dem
Lattenverschlag auf dem Boden aufzusuchen, bei den
Kindern zu bleiben.
Der Abend kam heran, und nach vielen
Ermahnungen und Warnungen durch den Meister, war ich mit
den Kindern allein.
Ein leichtes Bündel mit den wenigen Habseligkeiten war
schon seit Tagen gepackt und die zu passierenden
Ortschaften aufgezeichnet. Vom Nussbaum hatte ich mir
einen Reisestecken geschnitzt.
Jetzt, wo die Kinder schliefen und ich die Nacht hinaus
sollte, wurde mir doch etwas gruselig zu Mute. War es
nicht besser, ich blieb zurück - ? Ich stand am Fenster
und suchte das Wetter zu erforschen, da trat hinter einer
Wolke der Mond hervor und schien mir, freundlich und
verschmitzt zugleich, zuzuwinken: Komm sei ohne
Sorge, ich führe und begleite Dich zu Deinem Mütterchen!
Sehsucht riss mich hoch, ich hatte
schon das Fenster zur Flucht geöffnet, denn durch die
verschlossene Tür konnte ich nicht entkommen, da kam mir
ein hässlicher Gedanke.
Ein Andenken musste ich hinterlassen, an das der Meister
und ich zeitlebens denken sollten aber was? Ich
dachte an das kleine Mädelchen, an die Prügel, die ich
bei jeder kleinen Gelegenheit bekam, an all die
Lieblosigkeit, aber auch an die flegelhafte Antwort, die
ich der Frau Meisterin vor kurzem gegeben hatte.
Da hellte sich mein Gesicht auf, wie vorhin der Mond.
Mein Entschluss war gefasst.
Auf ein Stück Papier dichtete ich in zynischer Ironie
folgendes Verschen:
Ich kenne nur Schläge, Hunger und Durst,
mit Dank muss das Haus ich verlassen;
was auch geschieht, jetzt ist es mir Wurst,
mit ihr sollt Ihr lang Euch befassen.
Was soll ich noch um den Brei herumgehen! Tiefste
Verbitterung hatte mich gegen die lieblose Verwandtschaft
ergriffen, denen ich mich nie anvertrauen durfte, ohne
verhänselt oder bespöttelt zu werden.. Ich lenkte meine
Schritte zur Guten Stube, stieg auf den
blankpolierten mit einer Handarbeitsdecke verzierten
Tisch und machte eine kurze Kniebeuge. Als ich wieder zu
ebener Erde stand, verzierten, gleichzeitig als Ausdruck
tiefster Verachtung gegen die mir bisher gewordene
Behandlung, duftende Kakteen, die ich vorsorglich gleich
angegossen hatte, wie abgezirkelt die Mitte des guten
Tisches -.
Es war ziemlich spät abends, als ich das Haus durch das
Fenster verließ. Unter schwersten Entbehrungen und
Hunger bin ich nach fast acht Wochen langer Wanderung
unter Zuhilfenahme der Königsberger Polizei bei meiner
Mutter gelandet.
Um alle Hoffnungen aber, die ich in Sehsucht an das
Wiedersehen mit meiner Mutter geknüpft hatte, wurde ich
betrogen.
Nach kaum 8 Tagen wurde ich wieder nach dem Spreewald,
wenn auch nach einem anderen Orte und weniger lieblosen
Menschen abgeschoben.
Die Mutter fehlte mir sehr. Etwa 60 Jahre später stand
ich vor ihrem Grabe, selbst ein alter Mann von 76 Jahren.
Mein lieber Junge, kannst Du es verstehen, dass ich Euch
so hart angefasst habe?
So schloss mein Vater seinen Bericht.
Nun, ich konnte es nicht verstehen, war meinem Vater
über die oft harten Strafen jedoch nie gram -; ich hatte
gelernt, wie man Kinder nicht erziehen soll.
Meine Schulzeit ging ihrem Ende zu und daheim wurde die
Berufsfrage über mich erörtert.
Kaufmann durfte ich nicht werden, da die Kenntnisse dazu
nicht ausreichen sollten. Ich wusste wohl, dass der wahre
Grund für die Ablehnung dieses Wunsches mein Augenfehler
war und war darüber, wie schon so oft im Leben, sehr
verbittert.
Also fasste ich den Entschluss, Bäcker und Konditor zu
werden; einzig in den Gedanken an Pfannkuchen, Windbeutel
und sonstige Leckereien. Dieser Entschluss fand auch die
Zustimmung meiner Eltern, und ich durfte selbst die
Lehrstelle aussuchen.
Als Knirps von 52 Pfund
Schwergewicht tat ich bei Meister Schlaeger
in die Lehre, voll Zuversicht, nun endlich der fast
täglichen Prügel in Schule und Elternhaus entronnen zu
sein.
Die ersten 14 Tage wurde ich geschont, dann wurde ich in
den vollen Arbeitsprozess eingeschaltet.
Die damals durchschnittliche Arbeitszeit betrug täglich
16 Stunden und wurde erst Jahre später behördlich auf
nur 12 Stunden herabgesetzt.
Sonntagsruhe gab es nicht. Da wir aber Sonnabend nachts
schon ab 12 Uhr arbeiten mussten, hatten wir sonntags um
2 Uhr nachmittags Feierabend. Wenn wir dann nicht allzu
müde waren, durften wir u den Eltern gehen. Um 8 Uhr
abends mussten wir wieder n der Werkstube sein und
konnten uns nach 1 ½ stündiger Arbeit und Abendessen zu
Bett begeben.
Um 2 Uhr war für uns die Nacht zu
Ende und wenn dann dem Lehrling mitten n der
Teigbereitung der Kopf herabsank, so dass er der
Gegenwart auf Sekunden entrückt war, weckte ihn ein
derber Anranzer oder gar ein Tritt in die
Kniekehle aus der Bewusstlosigkeit und ließ die im Teig
steckenden Hände erschrocken weiterkneten.
Ich war von jeher ein
Pechvogel, und auch in der Lehre verließ
mich die Pechsträhne nicht. Waren Meister
und Geselle in Meinungsverschiedenheiten geraten, so
musste der Lehrling als Prügelknabe hinhalten, versah
der Lehrling gar selbst etwas, dann kannte das
meisterliche Züchtigungsrecht oft keine
Grenzen.
Einen solchen, heute fast
unglaublichen Fall möchte ich den Lesern nicht
vorenthalten, da er so recht in die Umrahmung meines
Werdeganges hineinpasst:
Zwei Jahre Lehrzeit hatte ich hinter mir, da ließ mich
der Meister zu sich rufen und eröffnete mir: Du
hast mich die ersten beiden Lehrjahre nur Geld gekostet;
mit Deinen Leistungen bin ich, der Lehrzeit entsprechend,
zufrieden. Da ich den Gesellen entlassen will, musstest
Du voll für ihn einspringen. Du bekommst jeden Sonntag
Deinen Fünfziger 50 Pfennig (25 Euro)
also feste ran an die Arbeit! Das war viel für
mich.
Ein Geselle bekam, Wohnung und Beköstigung nicht
gerechnet, drei Mark (1,50 Euro) pro Woche.
Es gab schwerste Arbeit für mich gewesen.
Obwohl ich mit 17 Jahren nur 74 Pfund (37 kg) Gewicht
hatte, musste ich mich mit schweren Säcken plagen. Arme
und Hände wollten oft den Dienst versagen, wenn sie den
festen Brotteig von 1 1/2 Zentner Mehl (75 kg)
durchkneten mussten, der Schweiß lief nur so am Körper
herunter.
Vier Wochen arbeitete ich schon mit dem Meister allein,
da hatte ich mir eines Tages eine fieberhafte Erkältung
zugezogen.
Zu Bett legen - ? Das war einfach unmöglich. Es wurde
eine schwere Nacht für mich, die schwerste meines
Berufes.
Ich hatte den Backofen geheizt und glaubte beim
Einfühlen der Hitze den Ofen überheizt.
Fiebrig, wie ich war, verständigte ich den Meister, der
gerade Teig knetete, sagte ihm jedoch, dass ich mich in
meinem Zustande vielleicht täusche. Na dann ziehe
doch kurze Zeit zwei Röhren, um die Hitze abzulassen, Du
wirst doch allein wissen, was da zu machen ist!
Meinen Einwand, dass ich Fieber habe und unsicher wäre,
ließ er nicht gelten. Es war Zeit, dass die Backware in
den Ofen kam, eine Arbeit, die der Meister selbst
verrichtete, während ich zureichte.
Kaum hatte der Meister den Ofen geöffnet, da fluchte er
los und schimpfte über die fehlende Hitze. Sowie er
einen Schieber Semmeln im Ofen abgesetzt hatte, stieß er
mit diesem nach mir oder schlug mich damit über Kopf und
Gesicht. Ich fühlte mich kaum noch als Mensch.
Die Brötchen brauchten etwas länger zum Backen als
sonst und waren auch nicht so braun.
Beim Herausnehmen der Backware musste ich dabei sein, um
diese noch in voller Hitze mit Wasser zu streichen (zu
glänzen !). Hierbei geriet der Meister erst in richtige
Wut, er schleuderte mir die heiße Ware schieberweise ins
Gesicht und schlug mich beim Bücken und Auflesen der
Brötchen mit dem Schieber zu Boden.
Die Meisterin war inzwischen aufgestanden und kam zur
Hilfe in die Bäckerei. Sie sah die weniger braune Ware,
hörte den Meister toben, sah auch mich in meinem Zustand
du sage zu mir: Du stinkiches Aas hast wieder den
Meister geärgert, wie sehen bloß die Semmeln aus - ?
Wie ich aussah, hat sie mir nicht erraten. Die Wut des
Meisters war verraucht und mit den liebenswürdigen
Worten Mach, dass Du ins Nest kommst,
verfluchter Hund, ich will Dich hier unten nicht mehr
sehen! durfte ich schlafen gehen. Ich schleppte
mich in meinen Lattenverschlag auf dem Boden.
Frühstück durfte ich nicht austragen, es wäre mir auch
nicht möglich gewesen. Fiebrig, matt und zerschlagen,
kaum fähig, die Kleidung abzulegen, sank ich auf mein
Lager und kam erst wieder zu mir, als Maria, das
Hausmädchen, das Mittagessen an mein Bett brachte und
mich wach rüttelte.
Das Essen musste sie wieder mit fortnehmen. Als ich
Kaffee bekam, teilte sie mir mit: Du sollst einige
Tage keine Ware austragen, dass soll ich tun! Hast Du
denn schon in den Spiegel gesehen, wie Du aussiehst?
Sie brachte mir einen Spiegel aus ihrem Kämmerchen -.
Nun wusste ich, warum ich plötzlich so gut
behandelt wurde und keine Ware austragen sollte. Marias
Augen waren feucht, als sie mir anriet, mich anzuziehen
und zu den Eltern zu gehen. Sie war mir behilflich und
wollte aufpassen, dass ich unbemerkt das Haus verlassen
konnte. Schwäche und Angst vor dem Vater ließen mich
zwar zögern; größer war jedoch die Angst, vor dem an
Epilepsie leidenden Meister geworden.
Der Meister schlief, die Meisterin verkaufte im Laden und
Maria, die stets anständig und nett zu mir gewesen war,
lotste mich heimlich auf die Strasse.
Ich muss mit meiner sauberen weißen Jacke, der weißen
Schürze und Konditormütze und dem verbeulten Gesicht
recht komisch gewirkt habe, da mich die Menschen, denen
ich begegnete, so auffällig ansahen. Ganz erschreckt
aber war die Mutter, als ich ihr daheim begegnete.
Ich schilderte ihr alles, was gewesen war. Mit blanken
Augen begab sich die Mutter zum Vater, um ihn
vorzubereiten. Als ich dann zu Vater gerufen
wurde und er mein fiebriges, entstelltes Gesicht sah, zog
er mich zum ersten Male, soweit ich mich erinnern
kann an sich und streichelte mir den Kopf. Das tat
doppelt wohl, da ich den Vater bis jetzt nur streng und
ernst kannte.
Der Arzt wurde geholt, ich musste nochmals erzählen,
dann hörte ich den Arzt sagen: Man müsste dem
Meister das Lehrlinghalten entziehen. Die
Angelegenheit wurde auch der Aufsichtsbehörde zur
Kenntnis gegeben, doch hat mein Vater von allen
Weiterungen gegen den Meister abgesehen angeblich,
um ihn nicht zugrunde zu richten.
Zurück brauchte ich nicht mehr; ich bekam eine zweite
Lehrstelle und war sehr zufrieden, so auch der neue
Lehrherr mit mir.
Die Lehrzeit war abgelaufen. Mit dem Gesellenbrief in der
Tasche begab ich mich auf Wanderschaft.
Unter Wanderschaft darf sich der Leser von
heute nun nicht ein Lodderleben vorstellen. War die
Lehrzeit beendet, so war die Wanderschaft ein wenn
auch unverbrieftes Zunftgesetz. Mein Gesellenbrief
enthielt am Schluss die vielsagenden Worte:
Wandere und lerne weiter!
Ein Meister, der keine Wanderschaft hinter sich hatte,
war einfach undenkbar. Also auch ich wanderte, und
wandern heißt laufen. Mit 12 Mark in der Tasche, den
Berliner (das ist eine Rolle mit der
allernötigsten Wechselwäsche und etwaigem Handwerkszeug)
auf dem Rücken und einen Stecken in der Hand marschierte
ich eines Tages mit Sonnenaufgang stolz und selbstbewusst
zum Städtchen hinaus in Richtung und mit dem stolzen
Ziel Rheinland.
Wenn dann das Licht gespart werden musste und wir im
Familien- und Freundeskreise gemütlich beieinander
saßen; wenn das aufloderne Herdfeuer spielende Ringe an
Decken und Wände zeichnete, erzählte ich oft aus der
Vergangenheit.
Auch heute wurde ich gebeten, die Schummerstunde in
dieser Weise angenehm zu verkürzen.
Die Zuhörer waren dann ganz Ohr und von dem Gehörten
meist so erbaut, dass sie mir und das nicht zum
ersten Male nahelegten, meine Erlebnisse in
Buchform wiederzugeben.Erst auf das Bitten meiner
Eheliebsten gebe ich diesem Wunsche nach und bringe die
Plaudereien langer Winterabende in Buchform zum Besten.
|
Es war Anfang Mai, die Sonne
erschien als rotglühende Kugel am Firmament,
Lerchen stiegen mit tririlierendem Gejauchze zur
Höhe, als wollten sie der Sonne zuvorkommen, und
auch der Kuckuck ließ seinen schelmischen
Lockruf erschallen.
Unter der taufrischen Flora wiegten
Himmelschlüsselchen ihre goldigen Köpfchen, als
wollten sie mir die ganze Welt erschließen, und
in vielen Windungen durchzog die vielbesungene
Saale Wald, Flur und Feld. Ein Lied aus der
Schulzeit kam mir ins Gedächtnis und aus
übervollem Herzen erschallte es von meinen
Lippen: Wer recht in Freuden wandern will,
der geh der Sonn entgegen, da ist der Wald so
kirchenstill, kein Lüftchen mag sich regen.....
Tief atmend erweitert sich die Brust in
seelischem Empfinden.
Zeichnung: Ursula Riekenberg |
Von ferne läuteten die Glocken
eines Dorfes das beginnende Tagewerk ein und es war mir,
als gelte dieser feierliche Glockenschlag der schon so
lange und schmerzlich ersehnten Freiheit.
Mehrere Stunden war ich
gewandert, da stellte sich, ein fast die Stunden
entweichender Hunger ein. Eine Wurst und ein Bündel
belegter Brote hatte mir die Mutter mitgegeben und dazu
gesagt: Wenn Du unterwegs Heimweh bekommst, isst Du
jedes Mal eine Bemme (Scheibe Brot), dann
vergeht das Heimweh!
Solange wollte ich denn doch nicht warten, denn dann
würde das Brot schon längst vertrocknet sein. Ganz in
der Nähe war ein Bach, der sich durch sein schwatzendes
Plätschern einladend bemerkbar machte. Dort ließ ich
mich nieder, schnürte meinen Berliner auf
und entnahm ihm den Becher, um die Gastfreiheit des
Baches auszunutzen. Wein kann nicht klarer sein, dazu
dickbelegte Brote und die mit Frühlingsblumen dicht
geschmückte Riesentafel der Natur, auf der ich in
Ermangelung jeder Sitzgelegenheit in unästhetischer
Weise Platz nahm -, an keine Zeit gebunden.
In weiter Ferne erblickte ich eine größere Ortschaft,
dort musste es Bäckereien geben, da musste ich den Wert
des Gesellenbriefes erstmalig ausprobieren, um die
mitgeführte Barschaft, die nur einen
Notpfennig darstellen sollte, nicht anreißen
zu müssen.
Der Lehrmeister hatte schon oft von den Sitten und
Gebräuchen auf der Wanderschaft erzählt und in der
Backstube vorsprechende Gesellen gaben die Bestätigung.
Froh und gesättigt verließ ich den Gasthof zur
blühenden Wiese und war bald in der gesichteten
Ortschaft angelangt. Ungewohnt im Anspruch (Vorsprechen
beim Meister) betrat ich klopfenden Herzens, doch im
Bewusstsein der Gesellenwürde den Laden: Gott
schütze das ehrsame Handwerk, Frau Meisterin, kann ich
Arbeit bekommen? Letzteres war aber nur eine
Anstandsfrage.
Mit Gottes Schutz ists
schon so, aber was willst Du denn arbeiten? Stolz
legte ich den Gesellenbrief und das Wanderbuch vor.
Mein Gott, Geselle sind Sie auch schon, dann
entschuldigen Sie mal das Du.
Meister, komm doch mal vor!
Der Meister kam, musterte mich von oben bis unten,
prüfte die Papiere und sagte: Na, Du bist ja ein
kleiner Kerl, sei tapfer und Glück zu, Geselle.
Jetzt war ich erst richtig stolz. Geselle,
hatte der Meister zu mir gesagt und 3 Pfennige nebst 2
Semmeln hatte ich auch noch auf den Weg bekommen.
Noch zwei Meister waren im Orte, die ich ebenfalls
aufsuchte. Beim letzten wurde ich auch in die Backstube
zu den Gesellen geschickt, die mich ersichtlich auch
nicht für voll ansahen. Gesellenbrief und
Wanderbuch verfehlten auch hier ihre Wirkung nicht.
Um 13 Pfennige und 6 Brötchen bereichert, verließ ich
den Ort meines ersten Wirkens.
Das Wanderbuch hatte den ersten Herbergsstempel. Man
hatte darauf zu achten, dass jeder Tag durch einen neuen
Stempel nachgewiesen wurde bzw. Übernachtungen im Freien
genau eingetragen waren, sofern man nicht
Unannehmlichkeiten mit der Polizei haben wollte.
Unbeschwert setzte ich meine Reise fort und sollte auf
ihr viele Erfahrungen sammeln, aber auch viele Erlebnisse
durchmachen. Einige der letzteren will ich zum Besten
geben.
Die Kunden (Wanderburschen) haben eine eigene Sprache,
die der Polente (Polizei) bekannt ist und die ich in
meinen Plaudereien einmalig erläutern will. Ein
Katzhoff (Schlächter), dem ich als
Lehmer (Bäcker) bekannt geworden war, bot
sich mir als Begleiter auf der weiteren Wanderschaft an.
Wir verabredeten uns auf Kippe (Teilung der
Sachspenden).
Früh am nächsten Morgen walzten (wandern) wir los.
Leichte Wolken bedeckten den Himmel und schoben sich ab
und zu über die Sonne. Es kann ja nicht alle Tage
Sonnentag sein. Trotzdem wanderte es sich herrlich. Wo
Bäcker und Schlächter als ehrliche Gesellen
zusammenhalten, gibt es genügend Semmeln und Wurstzipfel.
Wir hatten auch nie ausgesprochenen Hunger. Mittagessen
gab es manchmal auf dem Lande, man musste sich nur hüten
zu betteln, das konnte gefährlich werden. Wir hatten das
schon als Kinder nicht getan, da hatten wir höchstens
die Tante gefragt: Nicht wahr, Tante, man darf doch
nicht betteln, wenn Du Geld hast, bringst Du uns schon
allen etwas mit!
So ungefähr ging es auch auf der Wanderschaft. Hatten
wir Verlangen nach einem warmen Mittagessen
Sonntags hatten wir das stets - so gingen wir zu einem
Bauern und fragten bescheiden, ob wir uns nicht ein
Mittagessen verdienen könnten. Hatten wir
dann unseren Beruf genannt, dann lachte der Bauer oder
die Bäuerin zwar, warmes Essen fiel aber meistens ab.
Einmal hatte ich ausgesprochenes Pech. Es war wieder
einmal Sonntag. Um die Mittagszeit durchwanderten wir
eine kleinere Stadt, Bratendüfte ließen ns das Wasser
im Munde zusammenfließen und wir beschlossen der
Eine die linke, der Andere die rechte Straßenseite
abzuklopfen. In zwei Häusern hatte ich mich schon
vergebens nach einer kleinen Hausarbeit! für
ein Mittagessen erkundigt, da hörte ich in einem anderen
villenähnlichen Gebäude Geschirrklappern. Hier war man
bestimmt mit dem Essen fertig und Reste sind
dann doch meistens übrig.
Wohlgemut betrete ich das Häuschen und ziehe die Glocke.
Eine jüngere recht vertrauenerweckende Frau öffnet, und
ich trage bescheiden mein Anliegen vor. Die Frau mustert
mich, lächelt und sagt: Na, Sonntags und unter der
Mittagsruhe können Sie doch kein Holz hacken, kommen Sie
schon rein, ich werde auch so etwas übrig haben.
Ich durfte in die Küche treten, mich an den Tisch setzen
und bekam reichlich Kartoffeln und Fleisch vorgesetzt. Es
war in der ersten Zeit meiner Wanderschaft und ich
schämte mich doch, so unzweideutig gefochten
(gebettelt) zu haben.
Die Frau hatte wohl Vertrauen zu mir, denn sie ließ mich
in der Küche allein. Da fasste ich schon ungenierter zu.
Der Teller war fast leer, als die Tür sich erneut
öffnete und ein Gendarm eintrat, im Drillichrock,
den strammen Schnauzer (Bart) hochgezwirbelt und seinen
nicht gerade aufmunternden Blick auf mich gerichtet.
Was machst Du denn da?
Ich war vor Schreck sprachlos und wusste nicht zu
antworten.
Du hast doch gebettelt, mein Junge, na da iss mal
den Teller schön ab, ich will mich nur fertig machen,
dann wirst Du einige Wochen fasten!
Der Wachtmeister es war der Ehemann der Frau, die
mich so freundlich angelächelt und bewirtet hatte
nahm mir die Ausweispapiere ab und verließ die Küche.
Kalter Schweiß rann mir die Stirn herunter. Was sollte
nur daraus werden? Der Vater war bei der Verwaltung
tätig und stadtbekannt, würde erfahren, dass sein Sohn
wegen Bettelei im Gefängnis sitzt? Das durfte nie sein,
das wäre in der Heimat ein Stadtklatsch geworden.
Auf Vatern, der uns so überstreng erzogen hatte,
würde man mit den Fingern zeigen armer Vater!
Scheu sehe ich mich um. Die Küche hatte zwei Türen,
eine davon ging nach dem Flur.
Blitzschnelle Gedanken durchziehen das geängstigte Hirn.
Schnell den letzten Bissen heruntergewürgt, aber ach -,
der Wachtmeister hatte mir ja schon die Papiere
abgenommen, eine Flucht war zwecklos unmöglich.
Den Gendarm um Freilassung bitten -? Das wäre Unsinn;
ein Beamter, noch dazu mit solchem Schnauzbart und
unbestechlichen Blick lässt keinen
Verbrecher laufen. Ich hatte doch gar nicht
gebettelt, hatte doch nur ein Essen verdienen wollen -.
Weiter kam ich mit meinen Gedanken nicht. Die Tür ging
auf. Die Frau, die mich mit so freundlichem Lächeln
in die Falle gelockt hatte, trat ein, hinter
ihr der Wachtmeister.
Na, abgegessen hast Du ja, hast Du noch Hunger?
Nein, Herr Wachtmeister, lassen Sie mich
Stille, kein Wort! Frau, gib dem Fechtbruder
noch eine Tasse Kaffee. Wenn er fertig ist, sagst Du mir
Bescheid.
Mein Peiniger verschwand durch die Tür, ich bekam eine
Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen. Frau
Wachtmeister, bettelte ich, wollen Sie nicht
ihren Mann für mich bitten, was sollen nur meine Eltern
sagen? Ein Lächeln auf ihrem Gesicht,
trinken Sie mal ihren Kaffee!
War es denn möglich, dass eine Frau
so schlecht ist und einen anständigen Wanderburschen mit
der freundlichsten Miene ins Gefängnis bringt, nur um
ihren Manne zu einer Anzeige zu verhelfen?
Inzwischen hatte ich ausgetrunken, der Beamte trat wieder
ein, Helm auf, Handschuhe an, meine Papiere in der Hand.
Nun sag mir mal schnell Deinen Namen!
Wann und wo geboren?
Am 7.4.1880 in Merseburg
Und jetzige Wohnung bei Mutter Grün? Na, wird
anders werden!
Seine Hand fasst in die Hosentasche,
eine Kette rasselt, mein Blick geht vor Scham zur Seite,
bin ich denn schon zum Verbrecher gestempelt?
Entschlossen beiße ich die Zähne zusammen und drehe
mein Gesicht dem Polizeigewaltigen zu. Der ?- reicht mir
die Papiere, drückt mir nicht die Kette, sondern 15
Pfennige in die Hand und sagt: So, alter Kunde,
Deine Strafe hast Du weg, satt bist Du auch, nun trolle
Dich, dass du aus der Stadt rauskommst und nicht mehr
fechten - !
Wie ich mich bedankt habe und wie ich wieder auf die
Strasse gekommen bin, weiß ich nicht mehr, nur dass die
Sonne, die gerade hinter einem Wolkenschleier hervortrat,
mich so freundlich umstrahlte. Trotz ausgestandener Angst
empfand ich Dank und Wärme für die Bewohner des kleinen
Hauses, das ich soeben verlassen hatte.
Mein Wandergefährte wartete schon am Ausgang der Strasse,
er hatte bei einem Meister gut abgeschnitten. Gesättigt
und an Erfahrungen reicher zogen wir unseres Weges.
Wenn wir auch keine Nahrungssorgen kannten, die Bleibe (Nachtlager)
machte uns schon mehr Sorgen. Es war keine Seltenheit,
dass wir im Hotel Waldesluft, Wiesental oder,
wenn Glück hatten, im Gasthof zum molligen
Heuschober übernachten mussten. Diese Freistätten
der so gastfreundlichen Natur setzen jedoch warme und
trockene Nächte voraus, allein hätte ich sie nicht
aufgesucht. Regnete es wirklich einmal, so nutzten wir
die Erfahrungen alter Kunden aus. Wir
wanderten dann bis kurz vor ein Dorf, lagerten uns bis
zum Einbruch der Dunkelheit so gut oder schlecht das eben
ging und suchten dann den Ortsgewaltigen auf, der nach
einer alten Bestimmung Obdachlose nach Sonnenuntergang
nicht abweisen durfte.
Der Gemeindevorsteher stellte nach Prüfung der Papiere
einen Übernachtungsschein für den Gasthof aus, auf dem
wir morgens auch Kaffee bekamen. Diese Übernachtungen
fielen ganz verschieden aus und reichten vom Strohlager
im Viehstall bis zum Bettgestell auf dem Hausboden.
War jemand länger als 6 Wochen auf der Walze, so hatte
er den Gendarm zu fürchten; gegebenenfalls konnte er
sogar mit dem Arbeitshaus Bekanntschaft machen, falls er
eine amtliche Bescheinigung über eine erfolglose
Arbeitsbemühung nicht nachweisen konnte. Die
Meistergaben fielen knapp aus und die
Aussicht auf Arbeit wurde wegen Eintretender
Berufsentfremdung immer aussichtsloser. Ein volles
Vierteljahr auf Walze war sehr bedenklich und brachte
einen in den Verdacht der Speckjägerei.
Natürliche Grenzen wurden der Wanderschaft durch den
Winter gesetzt, in welchem gezwungenermaßen meist nur
Saisonarbeiter wanderten. Mancher dieser Bedauernswerten
hat schon den Schneetod erleiden müssen.
Wir hatten dem Städtchen, das mich fast die Freiheit
gekostet hätte, mit Riesenschritten den Rücken gekehrt.
Am Spätnachmittag erreichten wir einen Waldrand, wo wir
uns zur längeren Rast niederlassen wollten. Wir packten
unsere Essvorräte aus und ließen es uns gut schmecken.
Der Abend nahte und mit ihm dunkle Wolken.
Es war Neumond.
Wollten wir noch beizeiten eine Unterkunft auffinden, so
mussten wir schleunigst aufbrechen.
Ein Waldweg nahm uns auf. Stärker und stärker wurde das
Waldesrauschen; als wollte es uns mahnen und zur Eile
antreiben.
Dunkelheit brach mit Riesenschritten herein.
Eine Stunde waren wir so im Walde gewandert. Wir konnten
nicht mehr die Hand vor Augen sehen, und nur noch mit
Händen und Füssen tastend, Schritt um Schritt Boden
gewinnen.
Das Waldesrauschen war zum Ächzen und Stöhnen geworden,
fern rollte ein Gewitter; die ersten Regentropfen fielen.
Da verlor ich den Boden unter den Füssen, ich lag in
einem schmalen, etwa metertiefen Graben. Durch Zuruf
verständigte ich meinen Wandergefährten. Vorsichtig
pürschte er sich heran und legte sich neben mich. An ein
Weiterkommen war nicht zu denken.
So lagen wir lange eng zusammen, um nicht zu frieren.
Der Sturm ließ nach, Regen setzte ein. Wir waren fast
durchnässt, als der Regen endlich aufhörte. Frierend
und mit den Zähnen klappernd schoben wir uns Rücken an
Rücken gepresst zusammen, um die Körperwärme nicht zu
verlieren.
Etwa Mitternacht mochte es sein, als nicht weit von
unserer Lagerstatt ein Schuss fiel. Was konnte das wohl
sein? Mitten im stockdunklen Walde, wo man die Hand vor
Augen nicht sehen konnte und zu dieser Zeit ein Schuss?
Wir konnten lauschen wie wir wollten, nichts rührte sich
sollte ein Unglücklicher in dieser, wie dazu
geschaffenen Nacht, Hand an sich selbst gelegt haben? Wie
unsagbar schwer musste wohl ein Mensch gelitten haben, um
zu solchem Mittel der Erlösung, zum Freitod zu schreiten.
Noch stärker wurde ich vom Frost durchgeschüttelt,
unmöglich das Zähneklappern zu verhindern. Wenn doch
erst der Morgen graute, damit man sich warm laufen konnte.
|
Ein Geräusch aus weiter Ferne
wurde vernehmbar, es kam näher und näher -, ein
Lastwagen. Was tun? Wie sollten wir zu ihm
gelangen, ohne auch nur das Geringste zu sehen?
Würde der Fahrer uns nicht für Wegelagerer
halten und uns mit der Waffe bedrohen, wenn wir
so plötzlich im Walde auftauchen? Wir mussten
liegen bleiben, der Wagen kam näher. Das Licht
der Wagenlaternen durchbrach das Dunkel und in
etwa 50 m Entfernung fuhr der Wagen vorbei. So
nahe waren wir der Landstrasse und hatten es
nicht bemerkt.
Kaum machte sich der Morgen bemerkbar, standen
wir auf, schlugen wie frierende Fuhrleute mit den
Armen zusammen und wanderten weiter.
Zeichnung: Ursula Riekenberg |
Nach etwa 10 Minuten Marsch kamen
wir an eine größere Lichtung, von der uns ein
Gasthaus zum molligen Heuschober freundlichst
zum weiteren Verweilen aufforderte. Tief buddelten wir
uns in die Freistätte der Natur ein und fanden endlich,
übermüdet und fröstelnd, den so ersehnten Schlaf.
Wärmende Sonne weckte uns, wir marschiert weiter. Nach
etwa zehn weiteren Minuten hatten wir den Wald
durchstoßen und standen vor einem Dorfe. Gleich nach dem
ersten Haus statteten wir einen Besuch ab und baten die
Bäuerin um Erlaubnis, uns am Brunnen waschen zu dürfen.
Es war eine ältere freundliche Frau, die uns sogar ein
Handtuch brachte und ahnungsvoll fragte: In der
Herberge, wo Sie übernachtet haben, gab es wohl kein
Wasser? Ich erzählte treuherzig unser Erlebnis der
vergangenen Nacht. Na, da setzen Se sich mal auf
die Hausbank in die Sonne, ich habe gerade frischen
Kaffee gekocht.
Das ließen wir uns nicht zwei mal sagen.
Nach kaum fünf Minuten war unter einer grossen Linde ein
sauberes Tischtuch auf dem in die Erde gerammten Tisch
gedeckt. Eine große Kanne Kaffee, Brot, Butter und Käse
lockten einladend zum Frühmal.
Die Bäuerin setzte sich mit an den Tisch und ermunterte
uns zum ungenierten Zulangen. Für so viel Güte musste
ich ihr auch von meinem Erlebnis beim Gendarm vom Tage
zuvor. Meine Frage, ob wir uns mit einer kleinen Arbeit
für die erwiesene Unterstützung erkenntlich zeigen
könnten, lehnte sie mit den Worten ab: Ich habe
drei große Söhne, der eine studiert in Jena, der zweite
ist zu Hause in der Landwirtschaft und der dritte
befindet sich als Schlosser wie Sie auf der
Wanderschaft. Dass ich Sie so anständig aufnahm, ist
nicht so selbstlos wie es vielleicht aussieht. Ich habe
bei Ihrer Bewirtung im stillen unseren Herrgott gebeten,
er möchte meinen Wanderburschen auch so gut durch die
herrliche Welt mit ihren vielen Gefahren führen.
So sprach eine einfache Bauersfrau.
Ich wollte mich nicht beschämen lassen, innerlich
ergriffen wünschte ich ihr und ihren Söhnen
Gottes Segen.
Weiter ging die Wanderung kreuz und quer, wie es uns
gerade ratsam erschien. Auf der Landstrasse begegneten
uns Walzbrüder. Sie erzählten uns, dass wir bei drei
Stunden Marsch an einem Krankenhaus vorbeikämen.
Die Küchenschwester sei sehr anständig und ließe
keinen Wanderburschen ungespeist von dannen ziehen.
Es war Sonntag. Vier Stunden waren wir schon getippelt,
der Essvorrat war verbraucht, der Magen meldete sich zu
Wort, ein Dorf war nicht in Sicht.
Wir mussten durch einen Wald, der vor Monaten von einem
geflüchteten Kranken in Brand gesteckt und meilenweit
vernichtet war.
Nach einigen Kilometern Fußmarsch sahen wir ein einsames
Haus am Waldrand stehen, es war eine Försterei. Beide
gingen wir hinein und baten, uns am Brunnen den Durst
löschen zu dürfen. Es musste wohl eine Familienfeier
sein, denn der Tisch war weiß gedeckt, mit Blumen und
reichlich Esswaren bestellt. Ich hatte unsere Bitte noch
nicht ausgesprochen, als ein älterer Mann in
Forstuniform aufsprang und loswetterte. Ihr
verfluchten Strolche wollt wohl bloß eine Gelegenheit
zum Mausen ausbaldowern raus oder ich hetze die
Hunde auf Euch! Eingeschüchtert, geängstigt und
beleidigt verließen wir den Hof. Das waren also auch
Menschen.
Nun zweigten wir seitwärts in den vernichteten Wald
hinein, um das Krankenhaus zu erreichen. Mein
Wandergefährte war hinter mir geblieben, holte mich
jedoch bald ein und brachte ein Bündel Mohrrüben -!?
Wir haben damit unseren Durst und Hunger gestillt.
Furchtbar war die etwa eineinhalbstündige Wanderung. Nur
verkohlte Baumstämme waren zu sehen. Kein Vogel,
überhaupt kein Lebewesen ließ sich blicken.
Der Wald war tot.
Anklagend reckte er seine verkohlten Stämme wie Arme zur
Höhe, nur selten, wie geängstigt, wagte sich junges
Grün aus dem Boden hervor.
Das Krankenhaus war erreicht. Die Küchenschwester, voll
beschäftigt, hieß uns, in einer halben Stunde wieder
vorzusprechen.
Wir befanden uns in einer Provinzialanstalt und hatten
Gelegenheit, viel menschliches Elend zu studieren.
Es war der schwerste Tag meiner Wanderschaft, ein Tag des
Grauens vor der vernichteten Natur und vor den lebendig
Begrabenen einer Anstalt.
Als wir uns wieder bei der Schwester meldeten, wurden wir
gut bewirtet, geschmeckt hat es uns nach all dem Erlebten
nicht.
Das Verlangen nach Arbeit und das Glück, in wenigen
Tagen einen Meister gefunden zu haben, geboten meinem
Wandertrieb Halt, noch ehe ich das Rheinland
erreicht hatte.
In Eisenach hing ich Berliner und
Wanderstecken an den Nagel. Ich fühlte mich bald recht
wohl bei Meister Schmidt und habe so manches dort gelernt.
Nach einem Vierteljahr wurde ich schwer rheumaleidend und
musste den Meister verlassen.
Während meiner Krankheit war mir der Gedanke gekommen,
einen Onkel aufzusuchen, den ich kaum kannte und der ein
schwarzes Schaf in der Familie sein sollte.
Meine Verwandten gelten als besser situiert
und ich glaubte, den in Kiel lebenden Onkel durch sie zu
Unrecht weniger geachtet und daher vernachlässigt.
Vielleicht konnte ich da etwas gut machen.
Ich hatte gespart und so leistete ich mir eine Fahrkarte
4. Klasse (das gab es seinerzeit noch) bis Kiel, um nach
einem Abstecher bei den Eltern, wo ich die genaue Adresse
des Onkels erkunden wollte, bis Kiel durchzufahren.
Auf der Fahrt beobachtete ich einige Reisende, die Karten
spielten und mit der Zeit einem armen Teufel das letzte
Geld abnahmen. Dasselbe Kunststück wollten die
Menschenfreunde auch an mir ausprobieren,
doch winkte ich auf das Bestimmteste ab.
In Gedanken über Glücksritter und Falschspieler
versunken, schrak ich zusammen, als der Zug hielt und
alles zum Aussteigen aufgefordert wurde.
Der Zug war in Halle und ich hatte meinen Heimatort (Merseburg)
achtlos durchfahren.
An der Sperre konnte ich meine Fahrkarte nicht finden und
wurde dem rotbemützten Aufsichtsbeamten vorgeführt.
Dieser sah mich zwar misstrauisch an, ließ mich aber,
nachdem ich ihm erklärt hatte, ich könne die Karte nur
im Zug verloren haben, die Wagen nachsehen. Bald kam auch
ein Schaffner mit vier Stückchen Pappe an, die
zusammengeklebt meine Fahrkarte nach Kiel ergaben. Ich
hatte sie wohl gedankenlos zerrissen. Der Versuch, meinen
Dank durch Trinkgeld abzustatten, scheiterte
kläglich. Die Beamten legten ihrerseits zusammen und
spendeten mir unter Ermahnungen einen bescheidenen
Reisebeitrag.
Auch Menschen!
Ich habe mich über diese Handlung unglaublich gefreut,
ahnte ich doch nicht, dass ich später selbst 35 Jahre
diese Uniform tragen sollte. Der Vorgang zeitigte reiche
Früchte, ich selbst hatte es bis zum
Oberbahnhofsvorsteher gebracht und konnte oft helfend
eingreifen, wenn Not am Manne war.
Die Fahrt ging in Richtung Kiel weiter. Die Adresse des
Onkels würde ja im Adressbuch zu finden sein.
Spät abends gelangte ich ans Ziel und begab mich
erschöpft sofort zur Herberge.
Am nächsten Morgen holte ich mir den Innungsausweis, um
bei den Meistern vorzusprechen. Ich kam an einer
Polizeiwache vorbei, trat unerschrocken ein und bat um
Einsichtnahme des Adressbuches. Der Beamte wollte mir
behilflich sein und fragte nach dem Namen des zu
Suchenden.
Ich suche einen Hermann Malpricht, er ist mein Onkel und
soll hier in Kiel wohnen.
Na, dann brauchen wir gar nicht zu suchen, der ist
hier auf dem Revier jedem bekannt. Wenn er nicht gerade
in Glücksburg sitzt (Gefängnis), kannst Du ihn
vielleicht am Hafen treffen. Eine feste Wohnung hat er
nicht. Es ist auch besser, Du bemühst Dich gar nicht um
ihn, Du bist noch zu jung und könntest leicht unter die
Räder kommen.
Ja, er ist doch aber mein Onkel, vielleicht kann
ich ihn zur Rückkehr nach seiner Heimat bewegen, so
heruntergekommen kann er doch gar nicht sein!
Na, dann versuch mal mal Dein Glück, solchen
Menschen ist nicht mehr zu helfen.
Kiel ist groß, der Hafen sehr ausgedehnt, ich vollkommen
fremd, es schien ein aussichtsloses Beginnen.
Ich wollte versuchen, in Kiel Arbeit zu erhalten und dann
Nachforschungen anstellen.
Also durchzog ich die Strassen Kiels schon stundenlang
von einem Meister zum anderen, ohne jeden Erfolg.
An einer Strassenkreuzung sah ich zwei
Speckjäger an einer Litfaßsäule stehen,
der eine hatte gerade die Buddel (Branntweinflasche)
abgesetzt und schob diese leer dem anderen zu. Ich hörte
ihn sagen: Hier hast Du n Groschen, lass sie
drüben wieder füllen.
Ein Gedanke durchzuckte mich. Wenn Onkel auch zu jenen
Unglücklichen gehörte, war er denen vor mir vielleicht
bekannt.
Der Aufgeforderte, etwa ein Sechzigjähriger, war schon
auf dem Wege zur Destille, als ich seinen Kumpan
zunftgemäß ansprach: Kenn Kunde, ist Dir in Kiel
vielleicht ein Malpricht bekannt?
Wie heißt er denn mit dem Vornamen!
Hermann Malpricht, ehemals Drechslermeister in
Merseburg, er ist mein Onkel, ich bin als
Lehmer auf der Durchreise.
Wie heißt Du denn?
Ich bin Berthold, sein Neffe.
Na Mensch, schnell hinter die Säule, Hermann
lässt gerade die Buddel wieder füllen!
Ungläubig, überrascht und betroffen verschwand ich
hinter der Säule, gerade als der Gesuchte aus der
Destille auf der anderen Straßenseite heraustrat und die
Schnapsflasche schwenkend den Fahrbahn überquerte.
Vielleicht entsinnst Du Dich an Deinen fünfjährigen
Neffen, Berthold. Ich stand beschämt und klopfenden
Herzens und wartete, was nun kommen sollte. Bald hörte
ich folgenden Dialog:
Sag mal, Hermann, ist Dir ein gewisser Berthold
bekannt?
Wie kommst Du denn da druff?
Na Mensch, weil ich Dir von ihn grüßen sollte,
ich hätte das bald vergessen.
Nun nimm doch erst mal n Schluck und
denn schieß mal lös.
- Na ich habe mit Berthold gesprochen und er fragte
mich, ob ich Dir kenne und ich sollte Grüsse
bestellen.
Karl, das ist mein Schwager gewesen, wo und wann
haste denn den uffgegabelt?
Hermann, lass Dich nicht auslachen, ein 18
jähriger Lehmer kann doch nicht Dein
Schwager sein, hier an der Stelle habe ich ihn getroffen,
wie Du die Buddel geholt hast.
Na, Du Trantute, warum hast Du n denn nicht feste
gehalten, wohin ist er denn verschwunden?
Hab ick ja, Hermann, hab ick ja, kiek doch mal hier
hinter die Säule-!
Erwartungsvoll und fuseldunstig trat der Gesuchte zu mir
und starrte mich ungläubig an.
Guten Tag, Onkel Hermann, ich bin Berthold, der
jüngste von Jetschke und als Bäcker auf der
Wanderschaft. Die Verwandten haben keine Ahnung, dass ich
Dich aufsuchen wollte. Ich hörte oft von Dir erzählen,
konnte aber nicht alles glauben und musste, da ich nun
erwachsen bin, Dich selbst sprechen. Vielleicht entsinnst
Du Dich an Deinen fünfjährigen Neffen, der Dir immer
Schnaps von Sauerbreys in der Oberburgstrasse nach
der Werkstatt holen musste.
Junge, Du Dreikäsehoch, Du bist auch schon so weit?
Wie hast Du mich bloß hier ausfindig gemacht, ist denn
so etwas möglich? Wie gehts denn den Eltern und
meinen Geschwistern, steht denn die alte Heimat noch?
Alle diese Fragen kamen so pausenlos, so freudig erregt
raus, dass ich gar nicht zur Antwort kam.
Geh erst mal nach der Herberge, hier
können wir ns nicht so aussprechen, in einer halben
Stunde bin ich bei Dir, ich will bloß schnell was
besorgen. Schieb aber nicht gleich wieder los, tu mir
bloß das nicht an.
Ich sah einen vom Leben durchrüttelten alten Mann vor
mir, einen sogenannten Speckjäger
meinen Onkel, zu dem mich das Blut der Verwandtschaft
gezogen hatte. Sorge um mich und feuchte Augenwinkel
verrieten, dass er noch nicht ganz verloren war. Das also
war Onkel Hermann, den bittere Erfahrungen zermürbt und
haltlos gemacht hatten. Die Herberge war nicht weit ab
und gut besetzt. Es war noch keine halbe Stunde vergangen,
da erschien der alte Onkel und legte mir ein Paket mit
etwa 10 Paar gut belegten Stullen auf den Tisch. Er war
für mich betteln gegangen.
Junge, die sind alle einwandfrei und gut belegt, Du
kannst sie mit dem größten Appetit essen. Er zog die
Flasche aus der Brusttasche und tat einen tiefen Schluck.
Als ich ihn fragend ansah, meinte er: Ich würde
Dir die ganze Buddel geben, bringe es aber nicht fertig.
Es ist genug, dass es mit mir soweit gekommen musste.
Zwei Stunden habe ich mir die bitteren Erlebnisse dieses
alten Mannes angehört. Jedes geregelte Leben sei ihm
zuwider, da es nur Lug und Trug sei, hatte er
mir versichert.
Andern Tages wanderte ich weiter. Die
Liebesgabe des Onkels habe ich unter
bedürftigere Wanderburschen verteilt. Ausführliche
Schilderungen über dieses wundersame Zusammentreffen
ließ ich nach der Heimat gehen.
Kurze Zeit später hatte sich einer der
bedauernswertesten Menschen trotz allem, mit
Unterstützung seiner Geschwister, noch einmal
aufgerappelt, um ein ordentliches Leben zu beginnen,
jedoch vergebens. Das unstete Leben packte ihn bald
wieder. Er ging in der Fremde unbeweint zugrunde.
In Kiel konnte ich nicht mehr bleiben; das Erleben hatte
mich zu sehr gepackt und trieb zu neuer Arbeit.
Nach einem Abstecher über die dänische Grenze wanderte
ich nach Hamburg zurück und fand in einer Brotbäckerei
Arbeit. Dieses Glück dauerte nur acht Tage, die schwere
Arbeit ging über meine Kräfte. Verschieden versuchte
ich bei einem anderen Meister unterzukommen. Der Vermerk
des Zeugnisses: Berthold ist wegen allgemeiner
Körperschwäche des gestellten Anforderungen nicht
gewachsen machte mir, da dieses den Tatsachen
entsprach, ein Fortkommen unmöglich.
So schlenderte ich in Gedanken versunken und mutlos durch
Hamburg und Altona, als ich ganz unvermutet angerufen
wurde: Na, Du Lausejunge, was treibst Du Dich in
dieser Strasse rum, nun aber auf kürzestem Wege raus
hier.
Ich war fürs erste erstaunt und sprachlos, fand
mich aber sofort wieder und wurde ausfallend grob zu dem
vor mir stehenden Blauen
Grüne gab es seinerzeit noch nicht -.
Was erdreisten Sie sich, haben wir schon
Brüderschaft getrunken, und kann ich nicht gehen, wohin
ich will?!
Na, Jungeken, dann komm mal mit aufs
Revier.
Ich verbitte mir das Du von Ihnen; ich
bin ein erwachsener Mensch und suche Arbeit als
Bäckergeselle!
Lächelnd erwidert der Polizeibeamte: Ausgerechnet
hier in der Mariengasse? Na, dann zeigen Sie mal Ihre
Papiere!
Durch das Sie schon etwas beruhigter, reichte
ich ihm Gesellenbrief, Wanderbuch und Zeugnisse. Nach
kurzer Prüfung der Papiere bekam ich diese mit dem
Bemerken zurück: Na, dann will ich nichts gesagt
haben, solche Strasse sollten Sie lieber noch meiden.
Und was hats mit dem Lausejungen für eine
Bewandtnis?
Will ich auch nicht gesagt haben, denken Sie, Vater
hätte mit Ihnen gesprochen.
Der Beamte machte eine Halbwendung und ging weiter; ich
strebte dem anderen Ausgang der Gasse zu.
Jetzt erst bemerkte ich, durch den Vorgang aufmerksam
geworden, in den Erdgeschossfenstern der Häuser
paradiesische Frauengestalten in farbige Schleier
gekleidet. Die Fenster waren zwar geschlossen, doch
sorgte die Innenbeleuchtung und Körperverrenkungen der
Schönen -?! sehr eindeutig für die nötige
Reklame.
Ich hatte mich in das Reich der käuflichen
Liebe verlaufen. Von der so offen angebotenen
Kaufgelegenheit schreckte ich angewidert ab.
Zeiten vergehen.
Mutlos über die erschwerte Ausübungsmöglichkeit des
erlernten Berufes wanderte ich weiter.
So kam ich an einem regnerischen Oktobertag des Jahres
1897 durchnässt bis auf die Haut in Wittenberge an. Was
ich auf dem Leibe trug, war mein ein und alles.
Die Herberge war überfüllt, fröstelnd lief ich im
Saale auf und ab, um warm u werden und fand endlich eine
Sitzgelegenheit. Trotz Bierdunst und Zigarrengestank
schlief ich vollkommen erschöpft bald ein.
Einige Stunden mochte ich geschlafen haben, als ich durch
Tellerklappern und Bratkartoffelgeruch eine
Herbergsspezialität aufgeweckt wurde.
Immer noch fror ich grässlich, so, dass die Zähne
klapperten. Ein Teller heiße Erbssuppe sollte mir die
nötige Wärme spenden. Der Herbergsvater zog die Suppe
vor der Nase fort -; ich konnte nicht bezahlen. Papiere
und Brustbeutel mit ca. 3 Mark Inhalt waren mir gestohlen
worden. Ohne Papiere und Geld fand ich weder Unterkunft
noch Verpflegung, sogar die Meisterspenden blieben aus.
Einige Kunden umringten und tadelten mich
wegen meines Schlafes im vollbesetzten Gastraum. Ein
anscheinend mitleidsvoller Heringsbändiger (Kaufmann)
bezahlte für mich eine Suppe und lotste mich in eine
Ecke, wo mir bereitwillig Platz eingeräumt wurde. Die
heisse Suppe belebte mich wieder etwas.
Der Kaufmann tröstete mich so viel
Pech und erbot sich, mir für nur fünf
Mark Ersatzpapiere und Zeugnisse für jeden Beruf
zu vermitteln. Ein zweiter besserer Kunde
hatte schon Papiere bei der Hand und entnahm einer
Aktentasche verschiedene Stempel.
Was für Papiere willst Du denn haben? wurde
ich gefragt. Sofort durchschaute ich die Sachlage.
Ich habe doch keinen Pfennig Geld mehr, mit was
soll ich denn 5 Mark bezahlen? Ich muss in dem Wetter
raus, um m mir 20 Pfennig für die Übernachtung zu
betteln, hoffentlich fasst mich die Polente (Polizei)
nicht ab, erwiderte ich dem Hilfsbereiten
Kunden und ging los.
In 10 Minuten hatte ich mich zur Polizeiwache
durchgefragt, zeigte den Vorgang an und schilderte die
Hilfsbereitschaft der beiden
Kaufleute.
Mein Vater wurde polizeilich benachrichtigt und um
Abholung ersucht. Mir wurde geraten, zur Herberge
zurückzukehren und mich zu den
Fleppenfälschern (Betrüger) zu setzen, die
vermutlich auch mich bestohlen hatten. Zwei
Kriminalbeamte folgten mir in einigem Abstande.
Als ich die Herberge betrat, waren die Vögel
ausgeflogen. Der Herbergsvater bekam Anweisung, mich
übernachten zu lassen, für Auslösung wäre gesorgt.
Schon nach zwei Tagen wurde ich vom Vater abgeholt und
ausgelöst. In Merseburg, wohin ich mit dem Vater
zurückfuhr, traf ich Onkel Hermann aus Kiel wieder und
konnte mich an seinem guten Aussehen und meinem Erfolg
erfreuen, wenn auch nicht allzu lange.
Nur ein Jahr durfte ich mich der so sehr ersehnten
Freiheit erfreuen. Ein halbes Jahr Beschäftigung in
einer Konditorei versprach auch keine besseren Aussichten
für spätere Zeiten und so musste ich denn, dieses Mal
nach dem Willen des Vaters und auf Vorschlag des Arztes
umsatteln.
Ich sollte Zuschneider werden und musste dazu eine
zweijährige praktische Lehre durchmachen. Lust hatte ich
nicht die geringste, wer könnte das nicht nachfühlen,
mit 18 Jahren vom Gesellen wieder zum Lehrling zurück?
Nun, der Lehrmeister war en einsichtiger Mensch und ich
war willig und bestrebt, den gut gemeinten Vorschlag
meines Vaters zur Ausführung zu ringen.
Die zweijährige Lehrzeit habe ich gut überstanden und
im er von 20 Jahren die zweite Gesellenprüfung bei
Speckkuchen, Bier und Wein mit den
Meistersleuten gut gefeiert. Dabei wurde ich mit einer
Rüpelei der einzigen, deren ich mich in den zwei
Jahren schuldig gemacht hatte gehänselt, ich aber
ergänzte diese Rüpelei mit dem den Meistersleuten noch
unbekannten, tragischen Schluss, der den Ausgang der
Feier beherrscht gestaltete.
Die Rüpelei mit ihrem zum Nachdenken mahnenden Ausgang
möchte ich hiermit festhalten:
Mein fünfzehnjähriger Lehrkollege hatte allabendlich
zwei bis ein Paar Schuhe für die Meistersfamilie im
Keller zu säubern, dabei leistete ich ihm oft
Gesellschaft. Im gleichen Keller hatten auch die Gurken-
und Mustöpfe (Marmeladengläser) Aufstellung gefunden.
Wie Lehrlinge nun einmal sind -, wir entnahmen ab und zu
den Töpfen einige Kostproben mit dem Gaunertrick, dass
der Eine losträllerte oder ein Liedchen sang, während
der Andere die gewaltsam entführten Kostproben auf
ihre Haltbarkeit prüfte und munter mit größter
Sicherheit verzehrte.
Die Frau Meisterin war wohl aufmerksam geworden und
wollte an eine krankhafte Auszehrung der
Vorratstöpfe nicht glauben.
Eines Abends ich trällerte gerade den neuen
Schlager Ja, auf dem Baume, da hängt ne
Pflaume, die möcht so gern ich haben. Franz,
der Lehrkollege, hatte wieder einmal seine nicht immer
einwandfreien Finger tief in den Mustopf versenkt
klatschte es hinter mir recht verdächtig, Franz sauste
an mir vorbei, der Mustopf ging in Scherben und die
Meisterin, hinter dem Vorratsschrank auftauchend,
wetterte nach allen Regeln der Kunst über die
Verderbtheit der Lehrlinge, wobei sie bedauerte,
mir alten Kerl nicht auch eine runterhauen zu
können.
Der Lausbubenstreich hatte die Meisterin so gekränkt,
dass sie sich anderen Tages noch ganz schlecht fühlte.
Sie klagte ihrem Töchterchen Isolde im Beisein von Franz
ganz weinerlich: Ich fühle mich von gestern noch
ganz krank, vorhin hat in der Nähe eine Eule gerufen,
ich glaube bestimmt, das galt mir, ich werde doch noch
nicht von Euch gehen müssen? Da waren auch
Isoldchen die Tränen gekommen.
Franz kam zerknirscht nach der Bodenkammer geschlichen
und erzählte mir diesen dramatischen Vorgang.
Solchem Aberglauben musste abgeholfen werden. Die
Eule sollte noch oft ganz in der Nähe rufen
und die Frau Meisterin sonst eine gute Seele
trotzdem recht lange noch leben.
Also setzte ich mich in das Dachfenster unserer
Schlafkammer, von der wir einen herrlichen Ausblick nach
dem alten Stadtgemäuer und nach der Saale hatten und
ahmte wiederholt und meisterhaft den Eulenruf nach.
Franz dachte wohl noch an den zerbrochenen Topf und die
geerbte Knallschote (Ohrfeige) von gestern, denn er
trabte nach unten, wo ihn die Meisterin ganz aufgeregt
auf den Eulenruf aufmerksam machte.
Hörst Du den Totenvogel? Ich fühle mich so elend,
wenns nur noch nicht mir gilt. Franz
versuchte, der Meisterin diese Befürchtung - vollkommen
zutreffend - auszureden.
Wenn Sie so bleiben, wie Sic sich jetzt fühlen,
dann können Sie noch recht alt werden.
Dann kam er aber doch zu mir ans Dachfenster, und
ich stellte den Eulenruf ein. Die Meisterin wird noch
lange leben.
Etwas anders sollte es aber doch kommen.
Beim Morgenkaffee des nächsten Tages erzählte die
Meisterin ganz aufgeregt: Seht Ihr, dass ich
gestern Abend recht hatte, nur galt der Ruf nicht mir. Im
Nebenhause ist Frau Sommer im Kindbettfieber
gestorben. Wir antworteten mit keiner Silbe. Franz
versicherte mir, ich sei bei dieser Nachricht ganz blass
geworden. Das schien mir recht verständlich. Mir war der
Gedanke einer möglichen Mitschuld am Tode der
Verstorbenen gekommen. Wenn schon gesunde Menschen durch
Aberglauben krank werden, wie viel verheerender kann
solcher Unglaube auf Kranke wirken?
Ich habe mir später noch oft Vorwürfe über diese
Rüpelei gemacht und berichte davon nur, um andere von
ähnlichen Torheiten abzuhalten.
Zum zweiten Male Geselle geworden, gedachte ich, vor dem
Besuch der Zuschneiderschule meine praktischen Kenntnisse
zu erweitern. Als simpler Schneidergeselle habe ich dann
auch in Halle, Leipzig, Berlin und Posen gewerkt.
Das ging nicht so schnell wie es geschrieben ist.
Berliner und Wanderstab wurden wieder meine
Begleiter, und wo gewandert wird, da wird auch erlebt.
Meine Erlebnisse waren schon immer die Schwächen meiner
Familie und verdienen es daher hier festgehalten zu
werden.
Auf der Herberge in Berlin suchte ich mir einen
Wandergefährten, ohne einen solchen wäre die
Wanderschaft auch zu eintönig geworden.
So glatt wie bei der ersten Weltreise konnte
es das zweite Mal nicht abgehen. Es ist etwas ganz
anderes, ob ein Bäcker und ein Fleischer zusammen
wandern oder ein Schneider nd ein Schlosser. Wir mussten
also für genügend Kleingeld sorgen, wenn wir nicht zum
Klinkenputzen (betteln) gezwungen werden sollten.
Bei den Meistergaben von ein, zwei und drei Pfennigen war
nicht viel herauszuholen und mehr als zehn Meister pro
Tag konnten wir nicht ansprechen. Es gab auch Meister,
die die Pfennige für ansprechende Gesellen nicht zur
Verfügung hatten und Tage, wo wir nur einen oder zwei
Meister antrafen. Da bedurfte es dann schon aller
Wanderburschenschliche und ränke, um nicht als
Bettler von Gendarmen gefasst und eingelocht
zu werden. Das Betteln wurde in der Form umgangen, dass
wir beim Fleischer für 3 Pfennige Wurstzipfel verlangten,
für fünf Pfennige gab es seinerzeit schon ein Stück
Soldatenwurst. Vielfach bekamen wir dann
einige Wurstzipfel und das Geld zurück.
Mein Reisegefährte pfiff auf so viel
Vornehmheit und focht (betteln)
feste drauf los. Einmal sollte uns das fast die Freiheit
kosten.
Ein Gendarm hoch zu Roß hatte uns beobachtet. Wir gingen
um eine Straßenseite und bemerkten wie der Gendarm nach
einer Bäckerei winkte, in der der Schlosser kurz zuvor
Brötchen gebettelt hatte.
Nicht weit von uns entfernt am Ausgang des Städtchens
fuhr ein Planwagen. Wir ahnten nichts gutes, rannten dem
Mehlwagen nach, schwangen uns hinten hoch und
verschwanden unter der schützenden Plane. Den Kutscher
hatte ich schnell verständigt und gebeten, uns nicht zu
verraten, da wir gebettelt hätten und ein berittener
Gendarm vermutlich hinter uns her käme. Der Fahrer
bedeutete uns, zwischen den Säcken zu verschwinden und
diese standen so günstig, dass wir uns gut verbergen
konnten.
Nach kaum fünf Minuten hörten wir Huftritte näher
kommen, das Herz schlug uns hörbar bis zum Halse hinauf.
Neben dem Wagen reitend hörten wir den Reiter fragen:
Haben Sie zufällig zwei Penner
beobachtet?
Ja, gleich links hinten sind zwei auf dem Feldwege nach
dem Walde zu eingebogen, die konnten gut lofen, haben
wohl was ausgefressen?
Die Geschäfte haben sie abgefochten.
Die Strolche scheinen Lunte gerochen zu haben, ich werde
sie schon fassen. Der Gendarm riss sein Pferd herum
und ritt in der angegebenen Richtung davon. Das war
unsere Rettung dachten wir!
Der Kutscher ließ uns neben sich setzen. Er war früher
selbst gewalzt (gewandert) und erzählte
davon, nur war er nicht so gut davon gekommen. Vierzehn
Tage Gefängnis wegen Bettelei waren ihm in seinem
Fortkommen sehr hinderlich gewesen, deshalb hat er uns
geschützt.
Er holte einen ganzen Ring Schlackwurst hervor, schnitt
ihn in drei Teile, von denen er den kleineren behielt,
schnitt auch drei Runxen (dicke Scheiben)
Brot ab und wünschte uns guten Appetit. Einen Schluck
aus der Buddel durften wir auch nehmen. Das war ein
Genuss nach dem ausgestandenen Schrecken. Na,
Jungens, wie hat Euch die Pferdewurst geschmeckt?,
fragte uns lachend der Mehlkutscher. Wir lachten wieder
die Wurst hatte wirklich gut geschmeckt, ich hatte
noch nie Pferdewurst gegessen. Das Kompott
sollte bald folgen.
Die Landstrasse bog in einen Wald ein, der Fuhrmann hatte
dabei zufällig hinter sich gesehen und dabei oh,
Schreck unseren Verfolger in einiger Entfernung
erkannt. Er verständigte uns, ließ die Pferde in Trab
laufen bis wir durch die Biegung gedeckt waren, und wir
sprangen ab, uns seitwärts in die Büsche schlagend.
Eine Waldsenke verbarg uns vollständig, gesehen konnte
uns der Gendarm auch nicht haben.
Nach kaum fünf Minuten hörten wir wiederum Huftritte,
der Gendarm trabte vorbei, wir waren also nicht
beobachtet worden.
Trotzdem leben wir liegen und gedachten einige Stunden zu
lagern, um dann einzeln biz zum nächsten Ort
weiterzugehen.
Etwa eine halbe Stunde mochte ergangen sein, als wir
erneut Pferdegetrappel vernahmen. Als die Hufschläge
verebbten, äugten wir hinterdrein es war wirklich
unser Peiniger, der ohne Beute den Rückweg
angetreten hatte.
Jetzt hieß aber, aus der Gegend zu verschwinden.
Innerhalb des schützenden Waldes marschierten wir im
Geschwindeschritt in Straßenrichtung weiter. Nach ½
Stunde erreichten wir das nächste Dorf. Vor dem Dorfkrug
stand unser rettender Planwagen. Wir bedauerten, dass der
hilfsbereite Fuhrmann vielleicht Schwierigkeiten wegen
uns haben könnte und wollten vorbeischleichen, der aber
hatte ns bereits gesehen und hereingewinkt.
Es war Mittagszeit. Wir fragten nach einem Teller Suppe,
die wir auch bekamen.
Der Kutscher bestellte uns Bier und beim Essen schilderte
er uns die erneute Begegnung mit dem Wachtmeister:
Anhalten! Sie haben die Fechtbrüder auf Ihrem
Wagen. Sie sind beobachtet worden, wie sie sich unter die
Wagenplane geflüchtet haben, das müssen Sie doch
gemerkt haben?
Na, dann sind die och noch drinne, Herr
Wachtmeister, wolln wir gleich haben.
Ich bin ringeklettert, erzählte unser Freund
weiter und habe dem Wachtmester zugerufen: Nischt
zu machen, Herr Wachtmester, kommense rin und
überzeugense sich. Das der mit seiner Uniform
nicht in den Mehlwagen kam, wusste ich, aber den Plan
musste ich von einer Seite doch los machen.
Da sind die Strolche unterwegs wieder abgesprungen!
Wird wohl so sind, Herr Wachtmeister, Kinstlerpech,
Herr Wachtmester; ich hatte jedenfalls keine Ahnung!
Der hat mich dann so verdächtig eklich angekiekt und ist
wieder abgehauen.
Wir gaben von uns noch kurz Bericht, der Krugwirt, auch
ein ehemaliger Schlosser und Wanderbursche, der den Krug
vom Vater übernommen hatte, gab noch einige Erlebnisse
seinerseits zum besten und so wurde aus der Angstpsychose
eine Lebenserinnerung.
Der Kutscher nahm uns noch ein Stück des Weges mit und
trieb seine Pferde an, um wieder aufzuholen. Den Rest
wollte er auf den Gendarm abwälzen. Mit Dank schieden
wir von einem Vorbestraften, der durch
eigenes Erleben Mensch geworden war.
Über 30 km sind wir an diesem Tage gelaufen, nur um weit
aus dem Gefahrenbereich herauszukommen. Spät abends, es
war schon dunkel, erreichten wir en größeres Dorf. Kein
Mensch war zu sehen, vereinzelt bellten die Hunde. Etwas
helles an einem Zaun ließ uns folgerichtig vermuten,
dort musste der Ortsvorsteher wohnen. Die Holzläden
waren geschlossen, alles still ringsum. Nicht einmal ein
Hofhund hieß uns mit deinem Gekläffe willkommen. Leise
berieten wir uns, was war da zu tun? Wir klopften leise
an einem der Fensterläden, nichts regte sich. Den
Ortsgewaltigen wecken? Das wäre ein Wagnis und sicher
nicht ratsam. Also beschlossen wir, uns nach dem ersten
besten Stall oder gar nach der Scheune zu schleichen, um
unseren übermüdeten Körper die nötige Ruhe zu
verschaffen.
Glück muss der Mensch haben! Wir kamen ans
Scheunentor, die kleine Tür war nur verriegelt, leise
schlichen wir uns ein und zogen die Tür hinter uns zu.
Vorsichtig tasteten wir uns ein zogen die Tür hinter uns
zu. Vorsichtig tasteten wir uns im Stockdunkel vorwärts.
Kein Heu oder Stroh war zu spüren, auch keine Leiter,
die von der Tenne ins Heu geführt hätte. Nur ein
eigenartiger stockiger Geruch durchzog den
Raum. Ich hatte einen großen Wagen ausgemacht. Es blieb
uns keine Wahl; wir kletterten hinauf, legten den
Berliner unter den Kopf, kuschelten uns eng
aneinander und schliefen bald ein, ab und zu durch einen
Frostschauer erwachend.
Ein Rumoren auf dem Hofe machte uns munter. Es war
so hell, dass wir die Gegenstände um uns herum erkennen
konnten. Wir lagen in einem fensterlosen Schuppen auf
einem Leichenwagen, daneben stand eine Tragbahre,
in einer Ecke ein großes, schwarzes Holzkreuz und
verschiedenes Handwerkszeug, wie es der Totengräber eben
benötigt.
Auf einem Wagen, der die menschliche Hülle zum ewigen
Frieden führt, hatten wir fröstelnd übernachtet -!
Der Bauer müsste wohl etwas wahrgenommen haben,
denn er kam in den Schuppen und war auch gar nicht
erstaunt, als wir ihm von unseren vergeblichen Bemühen
um ein Nachtlager berichteten. Da werdet Ihr ja
ordentlich durchgefroren sein, sagte er nur,
wascht Euch mal am Brunnen und dann kommt in die
Stube, der Kaffee ist schon fertig. Das ließen wir
uns nicht zwei Mal sagen.
Durch einige kräftige Stullen und heißen Kaffee
gestärkt, setzten wir unsere Wanderung fort. Gegen
Mittag durchkreuzten wir einen Ort. Verabredungsgemäß
suchte mein Wandergefährte die linke, ich die rechte
Straßenseite nach einer Verdienstmöglichkeit gegen ein
warmes Essen ab.
Unter anderem betrat ich ein Haus, in dem sich
nichts rührte. Rechts im Flur war eine Tür. Ich klopfte
bescheiden an, keine Aufforderung zum Eintreten.
Vorsichtig drückte ich den Türgriff nieder, die Tür
gab nach, ein starker Glockenschlag, ich stand in einer
ländlichen Fleischerei ohne Schaufenster. Nun konnte ich
nicht gut zurück, wenn ich nicht in einen falschen
Verdacht kommen wollte. Gleich darauf kam eine große
kräftige Frau angelaufen, erkannte in mir den
Handwerksburschen und schimpfte, ohne zu fragen, was ich
wollte, gleich drauf los: Solch eine Frechheit,
jetzt kommen die Fechtbrüder ohne zu warten gleich in
den Laden, die Polizei müsste ich holen, was Wollen Sie
denn hier?
Frau Meisterin, schimpfen Sie doch nicht gleich
drauf los, ich bin ein anständiger Wanderbursche und
möchte für fünf Pfennige einen Wurstzipfel kaufen, da
ich schon seit drei Tagen kein warmes Mittagessen
erhalten konnte!
Das war zwar ein schlechtes Deutsch, doch sehr leicht
verständlich und nicht gebettelt.
Dann laufen Sie nicht gleich stracks in den Laden,
sondern warten draußen bis jemand kommt! Wollen Sie
einen Teller grüne Bohnen essen?
Ich nehme das dankbar an, Frau Meistern, aber
betteln wollte ich wirklich nicht.
Die Meisterin nahm mich mit in die Küche und schöpfte
mir vom Feuer weg einen großen Napf grüne Bohnen mit
reichlich Fleisch gekocht ein. Dann ging sie zur Haus
Tür raus nach der Straße und ließ mich allein in der
Küche.
Da stimmte doch etwas nicht? sie hatte doch
mit der Polizei gedroht! Mochte kommen, was da wolle. Ich
hatte für mein Geld Ware gefordert, und sie hatte mir
freiwillig ein Mittagessen angeboten. Jedenfalls zog ich
es vor, so schnell wie möglich den Napf leer zu löffeln,
dabei verbrannte ich mir in Hast und Sorge den Mund nicht
unerheblich.
Die Haustür wurde wieder geöffnet, die Fleischerfrau
trat ein, Gott sei Dank ohne Begleitung.
Frau Meisterin, besten Dank für das schöne Essen,
nun geben Sie mir bitte noch für zehn Pfennig Wurst; ich
bezahle alles zusammen.
Das war gerissen gesagt, nun konnte der Blaue kommen.
Hören Sie mal, junger Mann, ich habe doch keine
Kneipe, nun essen Sie schon noch etwas, ich habe
reichlich gekocht und mit der Polizei, das habe ich auch
nicht so gemeint.
Ich habe wirklich noch einen Napf leer gemacht, ein
Stück Wurst erhalten und musste sogar mein Geld wieder
einstecken -. Unter einer rauen Schale steckt oft ein
edler Kern.
Die Wanderschaft und damit ein unvergesslicher, nicht
immer sonniger Abschnitt meines Lebens ging ihrem Ende
entgegen. Etwa 50 km trennte uns noch von unserem Ziel.
Der Herbst machte sich unangenehm bemerkbar und drängte
zur Sorge für eine Arbeitsunterkunft im Winter.
Wir erreichen eine mit alten Obstbäumen bestandene
Chaussee, fast ausschließlich Apfelbäume, die
durchschnittlich große reife Früchte trugen. Für
Chausseebäume.
Eine Seltenheit. In der Ferne bemerkten wir einige
Leitern an den Bäumen, der Pächter holte die
vielversprechende Ernte ein.
Ihr habt Euch wohl schon die Taschen vollgestopft?
wurden wir angerufen.
Die sind zwar noch leer, aber mit Eurer Zustimmung
holen wir das gerne nach.
Wollt Ihr denn ein paar Tage für gutes Essen und
Übernachtung helfen?
Ohne Bedenken sagten wir zu. Frühstücken,
rief er den Pflückern zu; wir durften uns am Frühstück
beteiligen und bekamen jeder vier Eier und reichlich
Butterbrot, dann wurde eine Literflasche Schnaps
herumgereicht.
Obst könnt Ihr nach Feierabend essen, soviel Ihr
nur wollt, aber nur von den aussortierten und nicht
während der Arbeit, sonst schafft Ihr nichts!
Acht Tage haben wir Obst gepflückt, sehr gut gegessen
und gutgeschlafen. Am neunten Tage wurde eine Fuhre
sortiertes und in Körben verpacktes Obst auf den Markt
in Posen gebracht. Ich durfte mitfahren, während mein
Wandergefährte, ein großer kräftiger Bursche, auf dem
Bauernhof verblieb.
Die Abfahrt nach Posen erfolgte spät abends, die Ware
musste morgens in Posen sein. Einige Stunden waren wir
gefahren. Der Pächter hatte die Zügel lose in der Hand
und war eingeschlafen, die Pferde schienen den Weg zu
kennen, ich selbst durchforschte die Dunkelheit, soweit
das im Scheine der Wagenlaterne möglich war. Ganz
plötzlich und unverhofft schlug mit der Peitsche um sich.
Beim schnellen Umdrehen sah ich noch zwei Männer hinten
vom Wagen abspringen und in der Dunkelheit verschwinden.
Auf meine Frage, wie er die beiden bemerkt habe, da ich
doch in wachem Zustande nichts gewahr geworden wäre,
erzählte er von einem Fuhrmann, der vor Wochen in der
Nähe überfallen und beraubt worden sei. Er habe im
Halbschlafe das Empfinden einer Gefahr gehabt und ohne
jede Überlegung um sich geschlagen. Die beiden Burschen
hatte er jedoch auch noch bemerkt.
Mit der Ruhe war es für diese Nacht bei mir vorbei. Der
Pächter ließ die Pferde frei laufen und nickte bald
wieder ein, als wenn nicht das geringste geschehen wäre.
Geängstigt, in eine Pferdedecke gehüllt und doch
fröstelnd hatte ich mich in die Wagenecke gelehnt, ab
und zu den Blick nach hinten gerichtet. Aufmerksam
durchforschte ich das nächtliche Dunkel. Da bemerkte ich
in einiger Entfernung einen rötlichen Schein, die
Umrisse eines Hauses ließen sich erkennen. Plötzlich
schlugen hohe Flammengarben empor, die Pferde wurden
unruhig, ich weckte den Pächter. Ergriffen beobachteten
wir die vernichtende Macht des helllodernden Feuers.
Lange währte der Brand, um im Morgengrauen zu
verlöschen.
Eine tragische Nacht lag hinter uns, wir näherten
uns Posen. Auf dem Marktplatz blieb ich bis zur
Erledigung des Verkaufes.
Jetzt wollte ich die unbekannte Tante aufsuchen, der ich
mich schon vor Wochen angemeldet hatte.
Ich begab mich erst einmal zur Apotheke, wo ich mir Salbe
kaufte, dabei bevorzugte ich die graue Farbe. Der Barbier
brachte mir für 25 Pfennige Kopf- und Barthaar in
Ordnung. Ein ausgiebiges einstündiges Wannenbad sorgte
für die Reinigung des übrigen Menschen. Die stark
derangierte schmutzige Wäsche stopfte ich für
den Wärter unsichtbar hinter die Badewanne, dann
zog ich einen anderen Menschen an, der bisher
im Berliner geschlummert hatte. Für mein
letztes Geld von dreißig Pfennigen erstand ich für die
unbekannte Tante auf dem Marktplatz noch einen schönen
Blumenstrauß.
So auf Mensch umgearbeitet, wurde ich von
meines Vaters Schwester herzlich willkommen geheißen. Im
Laufe der Unterhaltung legte mir die Tante einen Brief
meines Vaters aus dem Jahre 1866 und meine Postkarte vor.
Ich hätte vor Gericht einen Eid geleistet, dass ich
diesen Brief geschrieben habe, so unverkennbar ähnlich
waren die Schriftzüge. Es war die Handschrift meines
Vaters aus seiner Jugendzeit.
Vier Wochen nur habe ich mich in Posen aufgehalten.
Eine Existenzmöglichkeit war bei täglich
vierzehnstündiger Arbeitszeit und einem Wochenlohn von
nur neun Mark, von dem alles, was zum Leben gehört,
bestritten werden musste, selbst für die damalige Zeit
nicht gegeben.
Jedenfalls hatte ich einen Einblick in die
Arbeitsmethoden und Verhältnisse verschiedener Städte
getan. An Erfahrungen und Wissen für Dasein und Beruf
reicher, kehrte ich nach Berlin zurück. Hier schritt das
Leben den mir vom Schicksal vorgeschriebenen Weg
unerbittlich weiter.......
Prustend und stöhnend fährt der Zug in die Halle des
Berlin-Schlesischen Bahnhofs ein.
Bremsen kreischen missliebig das Empfangskonzert für
alle, die der unersättliche Rachen des Großstadtmolochs
schlucken sollte.
Der Zug steht still. Wirres Durcheinander der Reisenden.
Hier und da freundliches Zuwinken, herzliche
Begrüßungen, Freude, jubelnde Umarmungen.
Lohnträger nehmen eilfertig Gepäckstücke von der
Hutschachtel bis zum Abteilkoffer in Empfang. Hoteldiener
schleppen Lasten vornehm wirkender Reiseutensilien nach
den Hotels. Mit zufriedenen und glücklichen Gesichtern
eilen Geschäftsreisende, Väter, Mütter, Freunde und
Bekannte ihren traulichen Heimen zu, um sich gegenseitig
das Herz nach langer Trennung auszuschütten.
Einsam und verlassen steht ein armer Handwerksbursche mit
schmalem Berliner und zwei Mark
fünfundsiebzig Pfennig in der Tasche, wie vergessen und
nicht abgeholt von niemand beachtet.
Erst aller Trubel vorbei ist und die Menschen sich
verlaufen haben, scheint wieder das Leben in ihn zu
kommen. Unschlüssig sieht er sich um und schreitet dem
Ausgange des Bahnhofs zu. Niemand hat ihn erwartet,
niemand sich seiner angenommen. Fremd steht er allem und
allen gegenüber und doch kennen wir ihn. Es ist der
Wanderbursche Ernst Berthold aus Großvaters
Erinnerungen, dessen Wanderungen wir bisher so
teilnehmend miterleben durften.
Doch lassen wir ihn nun wieder selbst erzählen.
******************
In Berlin angekommen, stand ich
zuerst ratlos und verlassen da.
Die Adresse eines Sohnes meiner Posener Tante und zwei
Mark und fünfundsiebzig Pfennige waren mein ein und mein
alles.
Der erste Weg führte mich zur Markgrafenstraße in die
Schneiderherberge. Unter allen Umständen musste ich
Arbeit bekommen, denn ich wollte leben.
Arbeitslosenunterstützung gab es seinerzeit nicht. Wer
nicht arbeitete, hatte auch nichts zu essen. Ging man vor
Hunger betteln und ließ sich gar erwischen, dann stand
das Gefängnistor offen, das man nur als
Vorbestrafter, also Mensch zweiter
Klasse wieder verlassen konnte.
Die Herberge war voll Arbeitsuchender, Arbeit war nicht
zu haben, oder doch, aber nur bei einem
Krauter (kleiner Meisterbetrieb) im Norden
Berlins, wo niemand hinaus wollte. Für mich gab es kein
langes Überlegen; ich schrieb mir die Adresse auf.
Zuversichtlich und voller Hoffnungen im Herzen suchte ich
meinen Vetter, der in der Marsiliusstraße eine
Schlafstelle inne hatte, auf. Nachdem ich die Grüße
seiner Angehörigen ausgerichtet und mich einigermaßen
satt gegessen hatte, durfte ich bei ihm auf dem Sofa
übernachten. Allerdings erhob die
Schlummermutter (Vermieterin) Einspruch gegen
den Zuwachs, der jedoch gegen fünfzig Pfennig
Sondergebühr zurückgezogen wurde.
Ausgeruht verließ ich um 6 Uhr früh und fünfzig
Pfennige ärmer den Vetter und erreichte nach
einstündigem Fußmarsch den Berliner Norden.
Mit Arbeitern voll besetzte Stadt- und Straßenbahnen,
Pferdeomnibusse und ganze Reihen Radfahrer fuhren nach
ihren Arbeitsstellen und überholten mich
Glückliche Menschen!-
Die Stelle bei Meister Krebs war noch frei. Ich traf
gerade zur Kaffeezeit in der Reinickendorfer Straße ein.
Nach kurzer Stärkung wurde Schere und Nadel hurtig in
Bewegung gesetzt.
Für neun Mark Wochenlohn bei voller Beköstigung hatte
ich Arbeit in Berlin gefunden.
Am Abend suchte ich mir eine Schlafstelle für monatlich
zehn Mark. Zwei Mark hatte ich anzuzahlen. Mit einer
Restbarschaft von fünfundzwanzig Pfennigen in der Tasche,
einem festen Dach über dem Kopfe und Arbeit bis zur
sauren Gurkenzeit fühlte ich mich als der
glücklichste Mensch. Der wäre ich wohl auch geblieben,
wenn die Liebe nicht wär!
Ab und zu besuchte ich meinen Vetter, vornehm, wie ich
nun einmal war, leistete ich mir zwei Rappen (Pferdestraßenbahn),
früher sagte man dazu gemeinhin er kommt auf
Schusters Rappen.
Sonnabends, oder wenn es stark regnete, fuhr ich eine
Teilstrecke auf dem Pferde-Sechseromnibus für fünf
Pfennige vom Nettelbeck- bis zum Pappelplatz. Das geschah
etwa nicht aus Angst vor den Schuhen, da hätte das
Wasser ruhig oben hinauflaufen können. Ich trug eine Art
Gesundheitsschuhe, das Wasser darin hatte unten meist
freien Lauf.
Mein Vetter, vom Beruf Kammmacher, war verlobt und
bestellte mich zu einem Sonntagsbesuch; ich sollte seine
Verlobte kennen lernen. Ein anschließender Ausflug mit
der eingleisigen Spreetunnelbahn damals noch eine
Sehenswürdigkeit nach dem Treptower Park, sollte
mit Tanz und Brillantfeuerwerk den Abschluss bilden. Das
versprach ja ein herrlicher Tag zu werden -, wenn ich nur
so könnte, wie ich wollte.
Mein einsitziger Anzug hatte bestimmt keinen Anspruch auf
Gesellschaftsfähigkeit mehr, war doch die
Verlobte meines Vetters ein besseres
Dienstmädchen bei Herrschaften, die am
Gendarmenmarkt die ganze erste Etage eines verschlossenen
Hauses einschließlich der Vorderzimmer bewohnten.
Unter einer Mark Unkosten fast 11 % meines baren
Wochenverdienstes würde es wohl kaum abgehen.
Mein neuer Anzug, den ich beim Meister abarbeitete, legte
mir auch größte Einschränkung auf. Ein Gedanke
durchzuckte mein gequältes Hirn dieser Anzug
musste bis Sonntag fertig werden. Heute war Dienstag. Bei
täglich vier Überstunden konnte ich
einschließlich Sonntag Vormittag vierundzwanzig
Arbeitsstunden herausschinden, es würde gehen.
Machen Sie für heute Schluss, Berthold, nach
dem Abendbrot wollen Sie doch an Ihrem Anzug
weiterarbeiten, sonst wird es mit der Brautschau am
Sonntag nichts, sagte der Meister.
Es ist doch die Braut meines Vetters, das ist
nichts für mich.
Vielleicht fällt für Sie in Treptow eine kleine
Schlächtermamsell ab.
Ein Klopfen an der Werkstatttür macht der Unterhaltung
ein Ende. Ein guter Kunde, Fleischermeister Pech, betritt
die Werkstatt.
Guten Abend, Meister Krebs.
Guten Abend, Meister Pech.
Haben Sie en Pfund Würstchen mitgebracht? Wir wollen
gerade Abendbrot essen.
Nein, aber sehr dringend Arbeit! Ich habe Trauer
bekommen und muss bis Sonnabend unbedingt einen schwarzen
Rockanzug haben!
Das wird nicht gut möglich sein, mein Geselle
macht schon jeden Abend Überstunden und ich allen kann
es nicht schaffen.
Nehmen Sie sich eine Aushilfe, den Anzug brauche
ich unbedingt, sonst muss ich die Konkurrenz beehren!
Na, Berthold, da wird es mit Ihrer Brautschau am
Sonntag nichts, wie denken Sie darüber?
Das Geschäft geht vor, Meister, von mir aus sollen
Sie Meister Pech nicht als Kunden verlieren.
Das ist doch ein Wort, Berthold, sagte
Meister Pech, gehen Sie zu meiner Frau, sie soll
Ihnen ein Pfund Würstchen auf meine Rechnung geben,
damit Sie sich Mut anfuttern.
Der Meister nahm Maß; ich
ging meinen Sonntagstraum gegen ein Pfund Würstchen
eintauschen, das wiederum in vier Teile ging; mit der
Meisterfamilie stand ich mich sehr gut. Es sollte
eben so sein.
Der Anzug wurde geschafft, ich bekam drei Mark Extralohn;
die Brautschau musste ins Wasser fallen. Sie fiel auch
gründlich hinein. Am Sonntag regnete es von früh bis
Abend Strippen.
Für mich war das gut so, ich blieb daheim und arbeitete
für mich selbst.
Abends begab ich mich nach meiner Schlafstelle, um einmal
tüchtig auszuruhen.
In der Maxstraße im Norden Berlins steht ein
dreistöckiges Mietshaus fast durchweg von einfachen
Arbeiterfamilien bewohnt, die durch vermieten einzelner
Zimmer ihren Lebensunterhalt zu verbessern suchten. Im
Parterre befand sich ein Milchladen und eine
Kaschemme (ein von dunklen Elementen
besuchtes Lokal).
Frau Rietz, bei der ich wohnte, war verwitwet und hatte
zwei sechs- und achtjährige Jungens. Sie verdiente sich
ihren Lebensunterhalt durch Hausreinigung,
Zimmervermietung und Wäscherei.
Die Frau war Anfang der dreißiger Jahre, sehr fleißig
und sparsam.
Für die Hausreinigung erhielt sie eine Zweizimmerwohung
zur Verfügung gestellt, die sie recht gut auszunutzen
verstand.
Ein größeres Zimmer, in das ich mit einem Frisör
teilte, enthielt zwei altersschwache Bettstellen, deren
Federbetten schon Generationen Wärme gespendet haben
mochten, einen Schrank, einen Tisch, zwei Stühle von
nicht mehr festzustellendem Alter und Farbe und enen
kompletten eisernen Waschständer. Wir zahlten dafür,
einschließlich Morgen- Kaffee je zehn Mark
monatliche Miete. Das kleinere Zimmer mit einem
Tafelklavier, dessen jammervolle Töne auch ein weniger
empfindliches Ohr beleidigen konnten, war für
fünfundzwanzig Mark an einen möblierten
Herrn abgegeben.
Der fensterlose Korridor, von den Milchglasscheiben der
Küchetür spärlich erhellt, war durch einen Vorhang
getrennt, hinter dem ein eisernes Bett Aufstellung
gefunden hatte. Dieses war einem Anstaltspflegling mit
acht Mark berechnet. Die Küche endlich, diente der
Wohnungsinhaberin und ihrer Schwester, die sich in ein
Bett teilten, als Schlafraum. In einem Bettkasten, der am
Tage unter das Bett geschoben wurde, schliefen die beiden
Knaben. Die Tapeten der Zimmer waren durchweg mit
Tapetenflundern (Wanzen) verziert. Dieses Muster war
teilweise auch in der Bettwäsche zu finden. Für zehn
Mark Miete konnte man nicht mehr verlangen.
Das war meine erste Zuflucht in Berlin, unter
solchen Verhältnissen lernte ich Berlin kennen und
musste mit meinem Schicksal zufrieden sein.
Da ich die Angewohnheit hatte, in allen Lebenslagen
unter mich zu sehen, gelang mir das auch sehr
gut.............
Der vielversprechende Sonntag war herangekommen.
Mein Zimmergenosse der Frisör hatte mir
das Haar leicht gewellt, die Bartkoteletten beschnitte
und den noch recht unansehnlichen Schnurrbart
herausgeputzt.
Der neue dunkelgraue Gehrock Straßenanzug wurde
ins Treffen geführt. Eine Künstlerschleife
für fünfunddreißig Pfennige mehr farbenfreudig
als wertvoll musste den Menschen erst richtig
herausheben. Die auf Hochglanz geputzten Schuhe und der
blankpolierte Nickelkneifer gaben den letzten Schneid und
stempelten mich, nach meinem Spiegelbild zu urteilen, zu
einem erträglichen Menschen.
Schicker konnte ich nicht aussehen, wenn ich auf eigene
Brautschau ging; so sollte ich ja nur die Braut des
Vetters kennen lernen, der würde sich seiner
Verwandtschaft nicht schämen brauchen.
Innerlich stolz, nach außen gleichgültig, als hätte
ich nie anders ausgesehen, ging ich zu Tisch.
Die Meisterfamile schmunzelte mich vielsagend an. Der
Meister sagte: Na, Berthold, so schick haben Sie
sich wohl selbst noch nicht gesehen? Da wird der
Vetter nebst Braut staunen!
Das glaube ich auch, Meister, hat aber auch so
ziemlich meine ganze Barschaft verschlungen!
Reichen Sie denn für heute, sonst gebe ich Ihnen
noch etwas. Sie wollen doch nach Treptow, da kostet das
Glas Bier zwanzig Pfennig?
Dann kann ich noch drei Glas Bier trinken, eine
Zigarre rauchen und die Elektrische bezahlen!
Wie sieht es denn mit dem Abendbrot aus?
Wenn mir die Frau Meisterin ein paar Stullen (Brotscheiben)
mitgibt, reiche ich aus.
Nein, Berthold, so können Sie nicht rechnen. Ich
geben Ihnen die Dreimarkrate für den Anzug von gestern
zurück und 50 Pfennige für Abendbrot, dann zahlen Sie
einfach eine Woche länger ab.
So anständig und familiär wurde ich bei Meister Krebs
behandelt.
Nach dem Mittagessen zog ein fast feudaler
Schneidergeselle mit dickem Portemonnaie eine Mark
fünfzig hatte ich mir in Groschen und
Sechsern (Fünfpfennigstücke) erbeten
zu seines Vetters Brautschau, nicht ahnend, dass ihm das
Schicksal auch seine spätere Ehehälfte in die Arme
an diesem Tage leider nur zu Gesicht
führen sollte.
Stolz wie ein Spanier traf ich bei Vetter Eduard ein. Die
Verlobte war noch nicht anwesend.
Eduard freute sich über mein gutes Aussehen; er hatte
mich seiner Verlobten angeblich in weniger guten Farben
und als Wanderbursche geschildert. Eine angenehme
Enttäuschung der Braut konnte meinem Ansehen nicht
schaden.
Wir hatten den Verlauf des Tages besprochen. Nach
Beendigung des Feuerwerks wollte ich von Treptow gleich
nach Hause fahren, während der Vetter mit seiner Braut
noch im Treptower Park lustwandeln wollte. Das konnte ich
verstehen; wie schön musste es sein wenn !!!
Die Flurglocke riss mich aus den Gedanken.
Eduard öffnete, der große Moment in zweifacher
Bedeutung trat ein nicht allein.
Ich wurde der Braut und deren Schwester Berta Schulz, die
zufällig zufällig ohne
Gänsefüßchen ihre Schwester besuchen wollte und
daher gleich mitgebracht wurde, vorgestellt.
Die Schwester war eine mittelgroße schlanke
Brünette von gutem Wuchs und gutem Aussehen. Graublaue
Augen, die ehrlich und ohne Falsch in die Welt schauten,
und eine gute Körperhaltung gaben ihr einen gewissen
Reiz. Das blassblau gemusterte Kleid mit einem bauschig
abfallenden und mit Sammetbändchen garnierten
Schulterkragen und dem dazu passenden einfachen aber
todschicken Hütchen wusste sie in dezenter Weise zu
tragen.
Mir erschien Sie wie der sonnigste Frühling. Trotzdem
beschlich mich eine beängstigende Unruhe. Ich würde
mich der zukünftigen Schwägerin meines Vetters widmen
müssen, schon um diesem und mir keine Blöße zu geben.
Dabei dachte ich an die Barschaft, die meinem
Portemonnaie mit seinen Zehnpfennigstücken Wohlhabenheit
vortäuschen sollte.
Das Eintreffen der Schlummermutter mit einer
großen Kanne Kaffee, der einen aromatischen Duft
verbreitete und gutes ahnen ließ, entrückte ich mich
allen weiteren Gedanken. Das nötige Geschirr und ein
Teller mit Sechser- und Kuchenstücken folgte. Die
Kaffeetafel wurde eröffnet.
Des Vetters Schwägerin war nicht so ganz einverstanden.
Ich habe mir selbst Kuchen mitgebracht, es
wäre wohl auch vernünftiger gewesen, bei dieser
herrlichen Witterung außerhalb in einem Gartenlokal
Kaffee zu trinken, als hier im Zimmer zu hocken,
sagte sie zum Vetter gewandt.
Das wollen wir auch, wurde ihr zur Antwort
gegeben, nur kann ich zu Hause eine ganze Familie
bewirten, während ich außerhalb den gleichen Betrag
für mich selbst benötige; so wie wir Kaffee getrunken
haben, fahren wir nach Treptow und genießen die Luft im
Freien, bei Konzert und Feuerwerk.
Um mich brauchst Du Dich nicht zu sorgen, lieber
Schwager, ich bezahle meinen Teil allein und habe mir
auch für den Abend Stullen mitgebracht.
Der Kaffee war bald
eingenommen, innere Wärme stieg in mir empor, ob vom
Kaffee, der herzlichen Unterhaltung oder Fräulein Schulz,
die neben mir saß und mich nett bediente, weiß ich
nicht mehr zu sagen. Die Tatsache selbst genügte ja auch.
Wir waren soweit. Vetter Eduard machte den
Bärenführer und empfahl mich, da ich in
Berlin verhältnismäßig fremd war, der Obhut von
Fräulein Schulz.
Bei dem herrlichen Wetter war großer Andrang
vorauszusehen; als Treffpunkt bei einer etwaigen
unfreiwilligen Trennung wurde die Abtei vereinbart. Wie
eine unfreiwillige Trennung zustande kommen sollte,
konnte ich mir nicht denken.
An der Spreetunnelbahn standen Menschen über Menschen,
die nach Treptow wollten. Die alle fünf Minuten
verkehrenden Wagen wurden förmlich gestürmt, dabei
wurden die Stehplätze auf den Vorder- und Hinterperrons
bevorzugt. Von dort aus konnte man den Spreetunnel in
seiner imposanten Bauart am besten bewundern.
Das Gedränge wurde immer
ängstlicher. Mit klopfendem Herzen bot ich meiner
Begleiterin den Arm. Aber bitte nur so lange, wie
dieses Gedränge ist.
Das war auch meine Absicht, Fräulein, ich will
nicht aufdringlich sein.
Dann ist es ja gut aber wo ist denn meine
Schwester und ihr Verlobter?
Schon war geschehen, was ich nicht begreifen wollte.
Zu den nächsten Wagenstürmern gehörten auch wir. Wir
ergatterten zwei Innenplätze. In einigen Minuten war der
Wagen überfüllt, das stereotype Besetzt der
Schaffner schloß die Wageneingänge hermetisch ab.
Die Fahrt begann. Der Schaffner kassierte, ich bezahlte
trotz Abwehr für beide.
Eine Unterhaltung wollte nicht so recht in Gang kommen.
Wenn das Mädel bloß nicht so reserviert wäre, ich
musste ihr wohl nicht so recht imponieren.
In Treptow angekommen, sahen wir uns nach unseren
Ausreißern um nichts zu sehen.! Das Gedränge war
auch hier groß, doch wies Fräulein Schulz, wenn auch in
höflicher Form, meinen Arm zurück.
Fräulein, ich darf wohl einmal neugierig sein;
sind Sie in einem Korbwarengeschäft tätig?
Nein, das nicht, nur gehe ich Vertraulichkeiten
gern aus dem Wege.
Entschuldigen Sie bitte, ich wollte mich keiner
Vertraulichkeit schuldig machen, möchte nur nicht, dass
wir uns verlieren! Das könnte für mich bei meiner
angeborenen Ängstlichkeit und Schüchternheit recht
unangenehm werden.
Herzliches Lachen der neben mir schreitenden Unschuld
davon habe ich wirklich noch nichts bemerkt,
sollten wir uns verlieren, dann bitte Abtei.
Huch! Das war deutlich gesprochen, fesselte
mich aber umso mehr. Die Kleine hatte Schmiß.
Wie konnte ich dieses Mädchen nur an mich ketten?
Würde ich als simpler Schneidergeselle so viel Schneid
aufbringen können, um dieses gediegene Geschöpf zu
erringen?
Schneider und Schumacher wurden schon seit jeher als
weniger vollwertig angesehen, obwohl der alte Derflinger
und Hans Sachs diesen Berufen zu höchstem Ruhm und Ehren
angerechnet werden müssen. Konnte an mir nicht auch ein
Atom solchen Berufswitzes hängen geblieben
sein?
Hurtig schritten wir aus. Alle Seiten meines angeborenen
Humors und Mutterwitzes ließ ich spielen. Wenn das Herz
voll ist, gehts zum Munde über.
An diesem Tage traf ich mich selbst.
Mit innerlicher Freude stellte ich fest Humor
zündet! Bald plauderten wir wie alte Bekannte.
Aufgelegt trafen wir auf der Abtei ein.
Es ist dies eines der größten und bekanntesten Berliner
Gartenlokale auf einer Insel inmitten der Spree.
Natur und Menschen haben hier eine Erholungs- und
Vergnügungsstätte für die werktätige Bevölkerung
Berlins geschaffen, die weit über Berlin hinaus bekannt
und beliebt ist.
Uralte Baumbestände ließen
schattige Plätze und Nischen entstehen, die von
Erholungssuchenden und erhitzten Tanzpartnern gern
aufgesucht werden. Flügge gewordene Menschenkinder
finden in ihrem Liebesgeflüster Schutz vor profanen
Blicken neidischer Mitmenschen.
An den Ufern der Insel ziehen
sich sonnige Terrassen entlang. Hier finden sich Väter
und Mütter in teils wärmebedürftigerem Alter zum
Schutz ihrer bedenklich heranwachsenden Küken und eine
begeisterte Sportjugend zusammen.
Stolz ziehen Segeljachten auf
der hier besonders breiten Spree ihre Bahn. Sport- und
Ruderboote kreuzen unter fröhlichen Tücherschwenken an
der Abtei vorüber. Vollbesetzte Vergnügungsdampfer
bringen Menschenmassen nach dieser sehenswürdigen Insel.
Würfel-, Schießbuden und Belustigungen aller Art
schafften Abwechslung für jung und alt.
Die Sonne vergoldet mit ihren wärmenden Strahlen das
schon oft von Künstlerhänden festgehaltene
Berliner Sonntagsleben.
Nach längerem Suchen fanden wir unsere Ausreißer, die
einen frei gewordenen Tisch belegt hatten.
Eilfertig drängen sich hilfsbereite Kellner durch
enggesetzte Tisch- und Stuhlreihen, um Bestellungen
entgegenzunehmen.
Stundenlang erfreuten wir uns an dem bunten Treiben der
Menge; abwechselnd, um den Tisch nicht zu
verlieren, beteiligten auch wir uns daran.
Das schnarrende Glücksrad verhalf uns zu
einem Gummiball und einer Milchflasche. Eine Zigeunerin
ließ der Braut durch ihren Papagei für nur
10 Pfennige in einem Briefchen die ganze Zukunft
verkünden, an einer Würfelbude erbeuteten wir einen
Luftballon, den wir nach einigen Minuten wunderbar
knallen hörten. Befriedigt kehrten wir zu unseren
Verwandten zurück.
Der Vetter nebst Braut hatten
bereits ihre Stullenpäckchen ausgepackt, meine
Begleiterin tat das Gleiche; ich bestellte mir eine
Riesenbockwurst mit Salat, wozu mir von meiner
rechten Seite wie ganz selbstverständlich
eine Stulle angeboten wurde, die ich - noch
selbstverständlicher - mit einem Glücksempfinden annahm.
Eine Stulle, in dieser Form serviert, verpflichtet. Der
Kellner musste die erforderlichen Getränke
herbeischaffen.
Kurz vor dem Feuerwerk kassiert dieser freundliche Mann.
Bitte: Eine Wurst mit Salat dreißig, zwei Bier
vierzig, eine Brause für Fräulein Braut
fünfundzwanzig, zwei Zigarren zwanzig und ein
Bier von vorher zwanzig, zusammen eins
fünfunddreißig. Ich zahlte 1,50, das musste ich schon
des Fräulein Braut wegen.
Bei diesen Worten hatte Fräulein Braut
gelächelt, während ich in meiner Glückseligkeit
puderrot wurde. In der jetzigen Zeit soll das umgekehrt
sein.
Ein gedanklicher Rückblick über den finanziellen
Verlauf des Tages ergab das Vorhandensein von einer Mark
fünfzig Pfennig als Barbestand.
Unvermutet erschüttert ein Böllerschuss die Luft und
lässt uns zusammenschrecken. Das Brillant-Feuerwerk
nimmt seinen Anfang.
Schnell wird zusammengepackt. Die Tische unter den
Bäumen leeren sich, alles strebt einem günstigen Platze
zu.
Raketen und Leuchtkugeln in allen Farben durchschwirren
fauchend die Luft. Explosionen schleudern Sternengebilde
nach allen Richtungen, feurige Sonnenräder drehen sich
in immer rasenderer Geschwindigkeit, um mit dröhnendem
Geknatter zu zerplatzen. Einige schwere Explosionen,
sekundenlange Pause, dann ein Bersten und Explodieren
hoch oben wohl an die hundert Strahlenbündel
täuschen in der Luft liegende, von der Sonne beleuchtete
Ährengarben unglaubhaft naturgetreu wieder. Fast eine
halbe Stunde währte dieser Feuerzauber.
In gehobener Stimmung wurde der Heimweg angetreten.
Auf Bahnhof Treptow das übliche Gedränge; wir mussten
zweiter Klasse benutzen, nur um mitzukommen.
Der Abend sollte einen würdigen Abschluss finden, wir
verließen den Zug am Alexanderplatz und kehrten in der
Konditorei Aschinger ein.
Starke Unruhe zwang mich, kurz vor Aufbruch, einen
stillen Ort aufzusuchen, wo ich zu meinem Schrecken
feststellen musste, Barbestand eine Mark
zwanzig Pfennige! Soviel machte gerade die
Zeche für meine Begleiterin und mich. Wo sollte ich
Trinkgeld für den Kellner und Fahrgeld nach Hause
hernehmen? Trinkgeldzwang gab es seinerzeit, Gott sei
dank, noch nicht. Gelegenheit, mich dem Vetter
anzuvertrauen, wurde mir auch nicht gegeben
Schicksal nimm Deinen Lauf !
Alles Blut schien mir zu Kopf zu steigen.
Zum Tisch zurückgekehrt, stellte sich auch der Kellner
ein. Eine Mark zwanzig Pfennige, die ich von oben
herab in Kleingeld der Westentasche entnahm und auf
den Tisch zählte, strich der Kellner mit Besten
Dank ein.
Die Uhr zeigte zwölf Uhr Mitternacht, als wir auf
dem Alexanderplatz standen.
Wir wollen uns hier verabschieden sagte
Vetter Eduard, Du begleitest meine Schwägerin wohl
noch nach Hause; also gute Nacht und angenehme Ruhe !
Da stand ich als Kavalier angeputzt, ohne Geld in der
Tasche neben einem lieben Mädel. Jeder Hund hätte seine
Freude an meinen frischgebügelten Hosenbeinen gehabt !
Herr Jetschke, es ist zwölf Uhr, um diese
Zeit träume ich sonst schon, ich fahre für zehn Pfennig
nach Hause. Sie haben dieselbe Strecke, da sind wir bis
Friedrichstraße zusammen. Von dort habe ich nur noch
zehn Minuten zu laufen.
Liebes Fräulein, wir können doch das Stück durch
die Neue Königstraße, Unter den Linden, Friedrich- und
Leipzigerstraße laufen, ich möchte mich Ihnen
gegenüber einmal so recht nett ausplaudern, einem Vetter
gegenüber kann man das doch nicht und sonst habe ich
niemand in dem großen Berlin. Ich bitte Sie recht
herzlich darum !
Nein, Herr Jetschke, für heute muss es genug sein,
wir treffen uns vielleicht später noch einmal, bitte
kommen Sie !
Fräulein Schulz, die heute verlebten Stunden sind
mir unvergesslich, erfüllen Sie mir doch meinen Wunsch;
wir können ja etwas schärfer zugehen, dann sind wir in
einer halben Stunde an Ort und Stelle.
Ich bedaure, meine Füße schmerzen mich,
vielleicht würde ich Sie auch recht enttäuschen müssen.
Sie enttäuschen mich bestimmt nicht, wir können
ja auch etwas gemütlicher laufen, damit die Füße nicht
mehr schmerzen.
Kommen Sie schon, Sie Quälgeist, laufen wir, sonst
stehen wir in einer Stunde noch hier, mein Fahrgeld
hätte ich bestimmt allein bezahlt - !?
Um Gottes Willen Fräulein, wenn Sie so etwas von
mir denken, dann fahren wir!
Das war doch von mir aus wirklich die Frechheit auf die
Spitze getrieben, ohne einen Pfennig Geld in der Tasche
so ein gewagtes Auftreten.
Meine Berechnung ging glatt auf.
So habe ich das wirklich nicht gemeint, wir
wollen uns etwas beeilen und zu Fuß gehen.
Mich schmerzten die Füße ja schon längst, die
Vermeidung einer unglaublichen Blamage ließen mich
diesen Schmerz vergessen.
Vergebens versuchte ich meiner Begleiterin den Arm
anzubieten. Plaudernd schritten wir nebeneinander her.
In wonnigem Glücksempfinden erzählte ich meinen ganzen
Lebenslauf. Ein Angetrunkener torkelte gegen Fräulein
Schulz, das veranlasste sie, meinen Arm doch noch
anzunehmen.
Nichts fehlt nunmehr zur Zufriedenheit.
Anreden wie: Liebes Fräulein, Fräulein Berta,
liebes Fräulein Berta usw. flochten sich in die
lebhafte Wiedergabe meines bisher wenig glückhaft
verlaufenden Daseins so ein, dass sie im Zusammenhang mit
meinem Bericht, dessen Zweck und Sinn unzweideutig
darlegten.
Das war mein bisheriges Leben, schloss ich
meine Erzählung, in der mich meine Zuhörerin durch
nichts unterbrochen hatte. Können Sie nun mein
Sehnen nach einem lieben herzigen Mädel, wie Sie es sind,
begreifen?
Herr Jetschke, ich verstehe Sie vollkommen, Ihre
Schilderungen gehen mir nahe. Ich werde noch oft darüber
nachdenken und hoffe nur, Ihr ferneres Leben möge sich
für Sie leichter gestalten. Haben Sie vielen Dank für
die Begleitung; um die Ecke, und ich bin zuhause. Gute
Nacht, und vielleicht auf Wiedersehen.
Wann kann das wohl sein, Fräulein Berta?
Wenn wir uns einmal bei meinem Schwager treffen.
Liebes Bertchen, dann würde ich täglich zu meinem
Vetter hin- und zurücklaufen und täglich schmerzlicher
enttäuscht nach Hause kommen. In vier Wochen wäre ich
nicht mehr zu erkennen. Bitte, bestimmen Sie doch einen
Tag, das gibt mir dann Hoffnung, von der ich bis zum
Wiedersehen zehren will.
Nur alle vierzehn Tage habe ich Ausgang. Es könnte
dann also in vierzehn Tagen zwischen zwei und vier Uhr
nachmittags sein und zwar Leipziger Ecke
Markgrafenstraße.
Was ich kaum erhofft hatte, war eingetreten. Mein Glück
war vollständig.
In einer impulsiven Aufwallung riss ich das Mädel an
mich und drückte ihr einen herzhaften Kuß auf
die Straße war nur wenig belebt.
Das war sehr ungezogen von Ihnen, ich werde es mir
noch sehr überlegen, ob ich mein Versprechen nunmehr
einhalten darf.
Liebes Bertchen, verzeih mein stürmisches
Benehmen, ich bin ja so überglücklich in Dich
verschossen und hab Dich so herzenslieb, dass ich
Dich nicht mehr loslassen möchte. Bitte, bitte komm in
vierzehn Tagen, wie verabredet.
Eigentlich sollte ich es nicht tun, Sie schlechter
Mensch, und nun gute Nacht.
Mein liebes Bertchen, eine gute Nacht habe ich
bestimmt, wenn sie auch schlaflos sein wird, ach
doch mein Glück voll und sag Du zu mir,
wie ich zu Dir!
Vielleicht später einmal, heute noch nicht.
Vielleicht - ? Mädel, wahrhaftig, ich sitze auch
morgen oder vielleicht heute früh hier. Du kannst mir
das glauben und Dich davon überzeugen. Bitte sag
Du zu mir.
Es lag so viel Ernst in meinen Worten, sie musste mir das
wohl zutrauen.
Komm gut nach Hause! sagte sie nur.
Hab vielen, vielen Dank für diese Worte,
jetzt will ich auch gerne gehen.
Ein herzinniger, nur scheu erwiderter Kuss besiegelte
eine Liebe auf den ersten Blick.
Als wir uns trennten, kündete eine Turmuhr die zweite
Morgenstunde.
Das Herz voll Jubel, die Taschen leer, trat ich zu Fuß
den Heimweg an. Alles um mich herum war nichts gegen das
Glücksgefühl in meinem Herzen. Müden Ganges ließ ich
die schönen Stunden nochmals an mir vorüberziehen.
Ab und zu schreckte mich eine zweifelhafte Schöne mit
derben Worten aus meinen Träumen. Angewidert von solcher
Erniedrigung wandte ich mich ab, konnte ich doch nicht
wissen, dass es oft erst biterster Not, Elend und gar
Schläge bedurfte, um manches der Mädchen zu diesem
bedauerlichen Gewerbe zu veranlassen.
Von der Weddingkirche ertönte die dritte Morgenstunde.
Langsam belebten sich die Straßen Berlins.
Milch-, Gemüse- und Fleischwagen
strebten den Bahnhöfen und der Zentralmarkthalle zu.
Laternenlöscher mit langen Stangen begannen
das Tagewerk. Das Nachtleben verlor seinen
Glanz.
Nur wenige Stunden Schlaf brachten
mich zur Wirklichkeit zurück.
**********
Unsere Liebe nahm den Weg
aller Liebe, die auf Nichts aufgebaut wird.
Ich hatte nichts, Sie hatte das Doppelte davon; wir
fühlten uns dennoch glücklich dabei.
Die Zeit des Besuches der Zuschneiderschule war
herangekommen. Vater hatte es durch Entbehrungen
ermöglicht, dass ich einen Kursus durchmachen konnte.
Einen Betrag von 400 Mark zu erübrigen, wollte bei einer
Familie von sechs erwachsenen Kindern schon etwas
bedeuten.
Die Stellungen als Zuschneider waren nicht so dick gesät,
auch wurden erfahrene Kräfte bevorzugt.
Ehe ich eine Stellung als Zuschneider antrat, bewarb ich
mich bei den Eltern meiner Zukünftigen um ihre Tochter.
Eine Antwort bekam ich nicht.
Beim nächsten Zusammentreffen überreichte mir mein
Mädelchen einen Brief ihrer Mutter. Er hatte unter
anderem auch folgende Sätze: Wie wir erfahren
haben, treibt sich Dein Verehrer in den Weinkneipen und
Lokalen der Friedrichstraße herum, - ich arbeitete
in der Friedrichstraße und hat selten Geld.
Einen Schneider bekommst Du doch noch alle Tage. Bringe
uns nicht diesen fremdem Menschen ins Haus
usw.
Meine Zukünftige weinte. Ich versuchte zu trösten,
obwohl ich selbst des Trostes bedurfte. Treu wollten wir
zusammenhalten, was auch kommen möge, das versprachen
wir uns erneut.
Selten hatte ich freilich so viel Geld, um davon
zurücklegen zu können. Was waren fünfzehn Mark
Wochenverdienst? Das reichte wohl kaum, um auch nur einen
Abend in der beschuldigten Weise zu verbringen.
Wie gern hätte ich der Braut den goldenen Reif an die
linke Hand gesteckt!
Wo der Wille ist, da ist auch ein Weg. Acht Tage später
glänzten die glatten Reifen an unseren Händen, einfache
Verlobungsanzeigen gingen zu den nächsten Verwandten und
Bekannten.
Der Verlobungsanzeige an die Brauteltern legte ich
folgende persönliche Zeilen bei:
"Werte Frau Schulz!
Von Ihrem Brief erhielt ich durch Ihre liebe Tochter
Kenntnis. Es tut mit leid, dass Sie auf Grund einer
hässlichen Verleumdung so schnell mit einem wenig
günstigen Urteil zur Hand sind. Dabei sind wir uns
persönlich noch gar nicht bekannt. Wenn ich Ihre Tochter
nicht so herzlich lieb hätte und mich nicht in Ihre Lage
hineindenken könnte, würde ich mit gleicher Münze
heimzahlen und Ihnen empfehlen: Setzen Sie sich
Ihre Tochter in den Glasschrank -! Vorausgesetzt, dass
sie das Verlangen danach hat. Dass dem jedoch nicht so
ist, können Sie aus beigefügter Verlobungsanzeige
ersehen. Am kommenden Sonntag stelle ich Berta meinen
Eltern Sekretär Berthold Jetschke in Merseburg
als zukünftige Schwiegertochter vor. Acht Tage
später stellt sich der fremde Mensch als
Verlobter Ihrer Tochter bei Ihnen vor. Sie werden Ihr
Urteil dann bestimmt ändern und erkennen müssen,
Schneider sind auch Menschen!
Mit freundlichem Gruß
Berthold Jetschke
Die Reise zum Besuch beider Elternpaare wurde
durchgeführt, das Geld dazu vom Munde
abgespart.
Am besagten Sonntag begrüßten und beglückwünschten
uns Geschwister von mir in Merseburg auf dem Bahnhofe.
Auch die Eltern waren sehr herzlich und gewannen sich
sofort die Zuneigung meiner Braut.
Eine bescheidene Verlobungsfeier brachte uns familiär
zusammen. Mit Ermahnungen für die Zukunft und
Versprechungen unsererseits, den Brauteltern nichts
nachzutragen, verließen wir tiefbeglückt meinen
Geburtsort.
*********
Kummerow, wunderschön an der
hügeligen Südostseite der Mark Brandenburg gelegen, ist
ein Dorf von etwa zweihundert Einwohnern. In Windungen
passt sich die Dorfstraße dem Gelände an.
Munter fließt ein Bach am Rande des Dorfes entlang, um
abwärts den Mühlteich eines Klosters zu durchziehen.
Kleine Bauerngehöfte und Katen bilden den Bestand dieses
Dorfes.
Angelehnt an einem Hügel, steht zur Zeit unter
Denkmalschutz eine Kate aus Lehm gebaut. Das
bemooste Strohdach schützt die zu ebener Erde gelegenen
Räume. An der Hinterseite erreicht es fast den
aufsteigenden Hügel.
Ein schmaler Weg führt von der Dorfstraße schräg
aufsteigend zum Eingang, dem einige Stufen vorgelagert
sind. Die Haustür ist in eine obere und untere Hälfte
geteilt, die jede für sich geöffnet werden kann.
Rechts vom Hausflur führt eine mit dem
Schutzzeichen der Heiligen Drei Könige
versehene Tür (C.M.B.) in die einzige Wohnstube. Eine
Lehmwand, türlos durchbrochen, trennt die auch als
Schlafraum dienende schmale Küche vom Wohnraum.
Wuchtig drängt sich der große Backsteinofen als
unentbehrlichster Bestand der Kate zwischen Stube und
Küche in die Räume ein. Die Ofenbank in der Stube ist
der beliebteste Platz im Hause; was könnte sie nicht
alles erzählen ---- ?
In den das Dach fast berührenden Hügel ist ein Keller
eingebaut, dessen Zugang von der Küche erreichbar ist.
Durch eine Schutztür getrennt steht im Hausflur
gegenüber dem Eingang der Backofen, fest eingemauert. An
der linken Seite hinter der Haustür liegt das
Ausgedinge, ein kleiner Schlafraum in dem
sich die Alten zurückziehen, sowie der
Nachwuchs die Kate übernimmt.
Der Boden endlich ist durch eine Leiter erreichbar, die
vom Hausflur an eine Falltür gelegt wird.
Aufgeschüttet, um das starke Gefälle abzuschwächen,
liegt seitwärts der kleine Hof mit Stallgebäude.
Versteckt, als wenn es sich seines Daseins schämt, steht
ein unscheinbares Holzhäuschen, innen anspruchslos mit
einer Querstange ausgestattet. Nur die Tür hat im obere
Teil einen herzförmigen Ausschnitt -!
Diese, so verträumt und idyllisch gelegene Kate ist die
Geburtsstätte meiner herzlieben Verlobten.
********
Der Tag des angekündigten ersten
Besuches der zukünftigen Schwiegereltern war
herangekommen. Mit dem Frühzug verließen wir Berlin.
In Neuzelle angekommen, standen wir mutterseelenallein
auf dem Bahnsteig. Niemand war zum Empfang gekommen.
Nach einem Fußweg von dreiviertel Stunde erreichten wir
das Ziel. Die Eltern waren nicht zu Hause. Wie uns die
Schwester der Baut mitteilte, mussten die Eltern bald aus
der Kirche kommen.
Schwiegervater war Chausseewärter und hatte mit nur
vierzig Mark Monatslohn eine vierköpfige Familie zu
erhalten; ohne Nebenverdienst wäre das kaum möglich
gewesen.
Der alte Herr, groß und hager mit freundlichen
Gesichtszügen, trat bald ein. Er begrüßte mich:
Herzlich willkommen mein lieber Junge, ich
gratuliere, werdet beide glücklich. Unsere Mutter wird
auch gleich kommen, nehmt ihr nichts übel, es ist
ja alles nicht böse gemeint-!
Die herzlichen Worte dieses einfachen Mannes taten mir
recht wohl.
Auch die Schwiegermutter trat ein. Auf halben Weg ging
ich ihr entgegen. Sie sprach nichts, sah mich auch nicht
an.
Frau Schulz, ich freue mich, dass mich Ihr
Mann willkommen geheißen und beglückwünscht hat. Sie
werden mich hoffentlich näher kennen lernen. Ich bin
nicht der Lebemensch, für den Sie mich nach der
Verleumdung halten müssen. Machen Sie sich keine Sorgen,
Ihre Tochter und ich haben uns ja so herzlich gern. Wir
kommen bestimmt gut durchs Leben. Sie haben für
Berta etwas besseres erhofft, Sie sollen noch einmal Ihre
Freude an uns haben.
Der von schwerer Arbeit gebeugten Frau liefen Tränen
über ihre verhärmten Wangen, das ergriff mich so, dass
ich nicht mehr weitersprechen konnte und auch meine Augen
feuchten Glanz annahmen.
Schluchzend reichte sie mir die Hand, Gott segne
Ihren Eingang! Bald hatte sie sich beruhigt und
sprach von einem Briefe, den ihr der Verlobte ihrer
Tochter Anna also Vetter Eduard geschrieben
habe.
Ich wollte doch nicht, dass Berta ins Unglück
rennt!
Konnte ich der gebeugten, sorgenden Mutter nach solchen
Worten noch zürnen? Der Bann war gebrochen, wieder
einmal hatte die Liebe gesiegt.
Wenn auch die spätere Ehe manche gefährliche Klippe
umsegeln musste, die alte Frau konnte noch den Aufstieg
ihres Schwiegersohnes erleben. Stolz und Zufriedenheit
aber sprachen aus ihren Augen, als der zehnjährige
Enkelsohn in der Schülermütze des Realgymnasiums vor
ihr stand. Sie ruhte nicht eher, bis ich ihr ein
Goldstück für die Weiterbildung ihres Holdi
abgenommen hatte.
Nun, Mutter, konnte ich mich nicht enthalten
zu fragen, Du bist wohl doch mit dem fremden
Menschen zufrieden?
Du hast mir bisher mehr Freude bereitet, als meine
Kinder zusammen!, sagte die Schwiegermutter ehrlich.
Ein herzlicher Kuß von mir, unter dem die alte Frau wie
ein junges Mädchen errötete, mochte ihr meinen Dank
für diese Anerkennung bezeugen
*******
Weiter schreitet die
Zeit, mit ihr auch Freud und Leid
Die Zuschneideschule hatte ich besucht und in einigen
Betrieben Stellung als Zuschneider gefunden. Die letzte
Stellung trennte uns voneinander und wurde schwer
ertragen. Liebesbriefe kreuzten hin und her. So viel
Herzlichkeit und Innigkeit gab es ja auf der ganzen Welt
nicht, wie da dem Papier anvertraut wurde.
Verständlicher weise werden nur allzu gern diese
Liebeserinnerungen vergangener Jugend den profanen
Blicken wissensdurstiger Mitmenschen entzogen, noch dazu,
wenn sie im Überschwange geschrieben sind.
Eine Zeit lang fristen sie noch wohlverwahrt ihr Dasein,
sind aber erst Kinder vorhanden, dann schämen sich die
ernsten Menschen meist ganz unberechtigt
ihrer Jugendphantastereien. Nichts kann den inneren Wert
eines Menschen deutlicher zeigen als ein Liebesbrief
wenn er ehrlich gemeint ist. Einen der letzten
Briefe an meine Verlobte und deren Antwort will ich hier,
fast wörtlich rekonstruiert, wiedergeben:
Ich habe mich über Deinen lieben
Brief gefreut und sei mir deshalb nicht böse
der Frau Doktor zu lesen gegeben, weil ich stolz
auf Dich bin. Ich hätte es nicht tun sollen. Die Frau
Doktor hat mit ihrem Mann darüber gesprochen, und beide
haben mir nicht nur abgeraten, Deinen Wünschen
nachzukommen, sondern mir sogar zugeredet, die Verlobung
aufzuheben. Ich bekäme doch jederzeit einen
Kleinen Beamten usw.
Lieber Schatz, ich freue mich, wenn wir im Herbst
heiraten könnten, obwohl ich mir auch schwere Gedanken
über unsere Zukunft mache. Gertrud, das Mädchen vom
Photographen sagt, einem Manne, der solche Briefe
schreibt, würde sie das gegebene Versprechen halten. Ich
halte es auch, mein lieber Kleiner ! Es sind doch schon
so viele Menschen glücklich geworden, die auch nichts
hatten. Wenn ich nur eine Ahnung von der Schneiderei
hätte. Ganz offen gesagt, Lust dazu habe ich gar nicht.
Wenn es einmal schief ginge, würde ich lieber außerhalb
des Hauses arbeiten gehen, um vorwärts zu kommen. Wie
werden sich unsere Eltern zu der Sache stellen? Wir
wollen das beste vom Schicksal erhoffen. Mache Dir keine
dummen Gedanken mehr, auch ich freue mich auf baldiges
Wiedersehen und sehne mich danach. Meiner Herrschaft
werde ich Dich noch vorstellen, damit sie anders über
Dich denken lernen. Wenn Du erst hier bist, kannst Du
vorläufig bei Meister Krebs unterkommen. Es ist zehn Uhr,
der Brief soll noch schnell in den Kasten, ich muss
sowieso noch mit dem WauWau runter.
Gute Nacht! Es küsst Dich vielmals und herzlich
Deine treue Braut.
Das sind zwei Briefe wie so viele andere auch und doch
wieder anders, weil sie uns tief in die Herzen zweier
junger Menschenkinder blicken lassen, die von Glaube,
Liebe und Hoffnung für die Zukunft beseelt sind, von der
sie alles erhoffen.......
Auf Bahnhof Friedrichstraße stehen, mehr oder
weniger freudig erregte Menschen einzeln und in Gruppen
und erwarten den angekündigten Zug. Es ist das
alltägliche Leben eines Großstadtbahnhofes.
Der rotbemützte Aufsichtsbeamte wird mit allen
möglichen Fragen bestürmt, die er mit gleichbleibender
Höflichkeit beantwortet. Sein warnender Zuruf
Achtung! Zug aus Richtung Schneidemühl
Posen Frankfurt fährt auf Bahnsteig B ein, bitte
zurücktreten bringt Bewegung in die Menge.
Bis zum Haltezeichen fährt der Zug langsam vor. Noch
bevor er zum Halten gekommen ist, machen sich Reisende
durch Schwenken weißer Tücher bemerkbar. Buntes
Durcheinander, Rufe nach dem Gepäckträger, Ausrufen der
Zeitungen und Anbieten vom fahrenden Erfrischungswagen
beleben das Ganze.
Auch Berthold ist mit diesem Zuge, der ihn dem ersehnten
Glück zuführen soll, eingetroffen und ganz überrascht,
als er von seiner Verlobten unerwartet begrüßt wird.
Trotz aller Schwierigkeiten hat sie sich von der Arbeit
freigemacht, um den Herzliebsten zu empfangen und ihm als
erste wichtige Entscheidungen für das zukünftige Leben
mitzuteilen.
Alles weitere darüber lassen wir besser wieder
unseren Großvater erzählen....
Ich war ganz erstaunt über den herzlichen Empfang
durch meine liebe Braut, die ich bei ihren
Herrschaften wähnte. Da sie sich für den
Nachmittag freigenommen hatte, legten wir den Weg nach
dem Berliner Norden zu Fuß zurück.
Am Nettelbeckplatz, der seinerzeit noch schmucke
Grünanlagen aufwies, machte sie vor einer Berliner
Mietskaserne (Häuser mit ausschließlich kleinen
Wohnungen) Halt. An der Hautür war ein Zettel befestigt:
Zwei Zimmer und Küche, Vorderhaus 4 Treppen ab
sofort vermietbar. Mietpreis fünfundzwanzig Mark
monatlich, Anfragen beim Hauswirt.
Diese Wohnung habe ich mir angesehen,
sagte meine zukünftige Frau. Die Zimmer sind nach
vorn, die Küche nach hinten gelegen. Für den Anfang
müsste sie schon genügen. Dem Wirt habe ich gesagt,
dass wir im Herbst heiraten wollen, die Wohnung aber
schon zum 1. Mai beziehen müssen, um eine
Schneiderwerkstatt einzurichten. Ich sollte mit Dir
zusammen noch einmal vorsprechen.
Erwartungsvoll kletterte ich 4 Treppen hoch. Jede Etage
hatte drei Wohnungen, von denen zwei einen gemeinsamen
Eingang besaßen.
Früher standen in Berlin bald mehr Wohnungen leer als
verlangt wurden. Die Hauseigentümer waren daher auch
entgegenkommender als heute. Auf unseren Hinweis, dass
zwei Personen die Wohnung doch nicht so beanspruchen wie
eine fünfköpfige Familie, wurde der Mietpreis auf 23
Mark herabgesetzt.
Anderntags wurde der Vertrag geschlossen. Der erste
Schritt zur Selbständigkeit war getan. Die Eltern wurden
verständigt und schickten uns an noch brauchbarem
Hausrat, was sie entbehren konnten. Das Handwerkzeug für
die Werkstatt spendete der Bruder Max, selbst
Handwerksmeister. Federbetten waren die im voraus
gestiftete Hochzeitsgabe der Brauteltern. So war schon
vieles für die Eröffnung einer Schneiderwerkstatt getan,
noch mehr fehlte.
Einhundertfünfzig Mark Spargeld standen an
Ersparnissen noch zur Verfügung. Fast täglich rechneten
wir die unbedingt noch erforderlichen Anschaffungen aus.
Fünfhundertvierzig Mark waren das wenigste, was wir bei
größter Einschränkung benötigten; dabei war
vorläufig nur ein Bett in Betracht gezogen worden, da
die Hochzeit ja erst im Herbst stattfinden sollte.
Für wen waren eigentlich die Abzahlungsgeschäfte
vorhanden? Hier war eine Rettung, glaubten
wir und ahnten dabei nicht, dass es fast unser Untergang
sein sollte. Mit fünfundsiebzig Mark Anzahlung richteten
wir unser bescheidenes Heim einschließlich der Werkstube
ein und vergrößerten damit die monatlichen Ausgaben um
dreißig Mark. Es würde schon alles glatt gehen, Tag und
Nacht wollte ich arbeiten.
Am 1. Mai 1903 prangte am
Hauseingang ein weißes Schild in bescheidener Größe:
Berthold Jetschke
Maßschneiderei und
Reparaturwerkstatt
Vorn 4 Tr. rechts
|
Stillsitzen und auf
Kundschaft warten, war ausgeschlossen, also beschaffte
ich mir als Zwischenmeister Arbeit für eine größere
Konfektionsfirma. Eine Umstellung von Maß- auf
Konfektionsarbeit st schwierig. Wer als Zwischenmeister
auf Konfektionsarbeit etwas verdienen will, muß sich zum
Spezialisten ausbilden und nach Möglichkeit
Spezialmaschinen anschaffen; diese kosten jedoch Geld,
und Geld war nicht vorhanden. Der Verdienst aus der
Betätigung als Zwischenmeister hielt sich demnach in
recht mäßigen Grenzen.
Erschwerend kam noch hinzu, dass ich alle Hausarbeit
einschließlich der Kocherei allein ausführen musste.
Die Zukünftige war ja noch in Stellung.
Mittagessen wurde bald zum Fremdwort, jedenfalls bestand
es zu neunzig Prozent aus Maggi- und anderen Suppen sowie
dünn bestrichenen Broten, die ich mir selbst
zurechtmachte. Für das Essen im Lokal fehlte meist die
Zeit, noch mehr aber das Geld.
Wo blieben die schönen Stunden, die sonst der Braut
gehörten? Alle vierzehn Tage sahen wir uns Sonntags
nachmittags zum Großreinemachen.
Beim ersten Großreinemachen fielen der Verlobten
verschiedene Flecke am Fußboden auf. Die Ursache waren
schwarze Käferchen in der Größe von Maikäfern, die
nachts schon wiederholt unter meinen Füßen zerknallt
waren, wenn ich im Dunkeln aufstehen musste.
Unsere Nachforschungen führten zu den Brutstellen der
Schaben in den Rillen und Rissen des Kachelherdes. Zu
unserem Schreck waren auch die Tapeten nicht unbelebt und
zeigten Spuren der Berliner Wanzen. - Das
Glück war vollkommen!
Ein Teil der Berliner alten Häuser hat es ja
bekanntermaßen in sich!
Mit größter Verbissenheit, Ausdauer und dem nötigen
Insektenpulver waren die Plagegeister bald gründlich
dezimiert. Ganz weg brachten wir sie nie, da sie sich auf
Schleichwegen aus den Nachbarwohnungen heranpürschten....
Wieder einmal war ein Sonntag, den ich allein zubringen
sollte, da die zukünftige Ehefrau keinen Ausgang hatte.
Übermüdet hatte ich bis neun Uhr vormittags geschlafen
und stand, missmutig über die viele Arbeit bei geringem
Verdienst, auf.
Wenn doch nur die zweieinhalb Monate bis zur Hochzeit
vergangen wären, dann würde doch alles viel leichter
sein. Heute wieder den ganzen Tag für mich allein -!?
Sehnsucht nach meinem lieben Bertchen ergriff mich. Ich
musste sie sehen, und wenn ich nur einen Guten
Tag wünschen und ihr vielleicht einen verstohlenen
Kuß aufdrücken konnte, dann hinge der Himmel
voller Geigen für mich und ich hätte wieder Mut
für die kommende Woche. Wie ließ sich das wohl
bewerkstelligen?
Meine Braut hatte mich schon längst ihren
Herrschaften vorstellen wollen. Ich würde
ganz einfach zu Doktors fahren, den
Herrschaftsaufgang benutzen und um eine
dringende Aussprache mit meiner Verlobten bitten. Dagegen
konnte nichts einzuwenden sein, ich musste mein Ziel
erreichen.
Schnell kleidete ich mich an, räumte die Werkstatt auf
und ging an die Zubereitung des Mittagessens.
Ein halb Pfund Schabefleisch von dem am
Vortage 5 Stullen hauchdünn bestrichen waren -, zwei
aufgeweichte Brötchen, ein Ei, Zwiebel, Pfeffer, Salz
und eine Prise Kümmel wurden verrührt, zu einem
Falschen Hasen geformt, mit einem Esslöffel
Fassfett auf beiden Seiten gut angebräunt und unter
Zugabe von feingeschnittener Zwiebel, Salz und Pfeffer
für die Soße langsam durchgeschmort. Mit etwas Mehl und
dem Rest der sauer gewordenen Milch wurde die
Bratensoße schön eingedickt. Es war doch
gut, dass ich als Junge solch großer
Toppkieker gewesen war, das kam mir jetzt
zugute. Der Hasenbraten hatte einen pikanten
Geschmack, obwohl einige Champignonbrocken der Soße ein
noch würzigeres Aroma verliehen hätten. Prima, prima,
würde jede unverwöhnte Hausfrau zu diesem
Götterfraß gesagt haben.
Der Restbraten war für den nächsten Tag zur Seite
gestellt, das Geschirr gereinigt und gründlich
aufgeräumt worden. Nach den üblichen Verschönerungen
des äußeren Menschen befand ich mich in Besuchsform.
Punkt vier Uhr drückte ich stark klopfenden Herzens auf
den Klingelknopf unter dem Schild:
|
Zahnarzt
Dr. Max Stölzer
Sprechstunden:
Täglich von 8 12 und 2 4 Uhr
außer Sonntags.
|
Also war heute keine
Sprechstunde.
Schritte auf dem Korridor wurden hörbar. Hinter den
Mattglasscheiben der das ganze Treppenhaus einnehmenden
Flurtür schwebte etwas weißes heran und
öffnete vorsichtig die Tür meine liebe Braut.
Zum Anbeißen sah sie in ihrem weißen Tändelschürzchen
und Häubchen aus.
Ja, Berthold, was führt denn Dich so überraschend
nach hier?
Mein liebes Kind ! Würdest Du mich bitte der Frau
Doktor melden, ich hab verschiedenes mit Dir zu
besprechen, vielleicht gibt sie Dir ein halbes Stündchen
frei.
Liebling, das ist leider nicht möglich, die
Herrschaften sind zu Verwandten gefahren und kommen vor
dem Abendessen nicht zurück. Du darfst dennoch eintreten,
meine Schulfreundin Alma Stöckert ist bei mir.
Hocherfreut trat ich ein. Die Korridortür war kaum
geschlossen, als ich meiner Braut einen herzinnigen Kuss
aufgedrückt hatte.
So, Du geliebter Strolch, weiter wollte ich
überhaupt nichts von Dir, nun mache mich mit Deiner
Landsmännin bekannt !
In der Küche, wohin sie sich bescheidener Weise
zurückgezogen hatte, lernte ich die Landsmännin gleich
in ihrer burschikos offen herzlichen Art kennen.
Na, da hätte ich meinen Besuch doch auf einen
anderen Tag verlegen können, sagte das drollige
Mädel, warum hast Du mir das aber auch
verschwiegen, Brautpaare wollen doch immer allein sein,
allerdings nur bis zum Hochzeitstage.
Da muss ich widersprechen nahm ich die
Antwort vorweg, Bertchen war durch mein Erscheinen
selbst überrumpelt worden. Ich hatte die Absicht,
mir von der Frau Doktor ein halbes Stündchen Freizeit
für meine Braut zu erbitten.
Sind aber heilfroh, dass es jetzt ein gemütliches
Stündchen wird, nur die Landsmännin dürfte nicht dabei
sein. Lerne mir doch jemand die Männer kennen !
Hin und her flogen die neckischen Worte, schnell war eine
Stunde verflogen.
Von der Braut und ihrer Freundin bis zur Straßenbahn
begleitet, trat ich zufrieden den Heimweg an. Mit Mut und
Eifer sollte die neue Woche begonnen werden.
|
Die Hände gerühret und Freude
im Sinn
schafft leichthin die Arbeit und bringet Gewinn ! |
Mit der Montagsleistung konnte ich zufrieden sein. Die
Abendpost brachte neue Arbeit, die dringend geliefert
werden sollte. Bald beschäftigte ich 8 Heimarbeiter,
einen Einrichter und Bügler.
Spezialmaschinen fehlten an allen Ecken und Enden. Der
Betrieb forderte mehr und mehr persönliche Arbeit.
Lohnberechnungen, Erledigung der Kranken- und
Invalidenkasse, Ablieferungen usw. waren neben den
sonstigen Leistungen erforderlich.
An die Häuslichkeit konnte ich kaum noch denken.
Das Bett wurde abends so aufgesucht, wie es verlassen war.
Brot und Kaffee Kaffee und Brot waren die
Hauptmahlzeiten.
Trotz größter Einschränkungen fehlte es an den
Lohntagen nicht selten an Bargeld; das konnte unmöglich
so weitergehen.
Die zukünftige Frau Meisterin war einsichtig
genug; sie konnte mit Einwilligung ihrer Arbeitgeberin
vorzeitig ihre Stellung verlassen und die Hausarbeiten
übernehmen. Das war für mich eine recht fühlbare
Erleichterung.
Pech hatte das arme Mädel insofern, als ihr in ihrer
Schlafstelle, die sie auf 2 Monate mietete, ein Reisekorb
erbrochen und daraus Geld und Wertsachen entwendet wurden,
die sie nie wieder sehen sollte.
Unter fleißiger Arbeit vergingen die Wochen wie im Fluge.
Am 12. September 1903 hielt ein tapferes liebes Mädel
ihren Einzug als Ehefrau in ihr eigenes Heim, um
Freud und Leid mit mir zu teilen, und in Liebe
getreulich bis an ihr Lebensende bei mir auszuharren.
Noch aber fing unser Leben erst an.
Es wäre ungerecht, alle Freude und alles Leid, das ich
mit meinem Bertchen erleben durfte, der Vergangenheit zu
überantworten. Es waren die schönsten Tage meines
Lebens auch im Leid.
Manche auf unsicherem Boden aufgebaute Ehe wird der
unseren ähneln und bei den Lesern unvergessliche
Rückerinnerungen eigenen Erlebens wachrufen.
Dekorationsmaler Traugott Schlampert,
unser Flurnachbar, hatte mit uns einen gemeinsamen
Korridor. Hatte mit uns einen gemeinsamen Korridor. Drei
stets hungrige Mädelchens von sieben, fünf und zwei
Jahren brachten das knappe Kostgeld der Mutter bedenklich
aus dem Gleichgewicht. Der Wochenlohn des Mannes wollte
an keiner Ecke ausreichen. Trotzdem waren die
Nachbarsleute verträglich und hilfsbereit. Die Kinder
waren sehr folgsam und freuten sich über eine Stulle
oder gar ein Stückchen Kuchen mehr, als andere Kinder
über Spielzeug.
Traugott selbst war oft arbeitslos, das brachten die
Jahreszeiten für manche Berufe leider so mit sich. Wenn
die Arbeit wieder einsetzte, musste der Verdienst zum
Teil zur Abtragung notwendig gewordener
Lepperschulden verwendet werden, waren alle
Verbindlichkeiten abgedeckt, dann war erneute
Arbeitslosigkeit nicht mehr fern. Sorgen gehören nun
einmal in den ewigen Kreislauf der Menschen im
allgemeinen, in den der Familie Schlampert jedoch im
besonderen.
So kam es auch, dass Traugott an Lohntagen in der
Destille einige Groschen hinunterspülte, um sie diesem
verpönten Kreislauf zu entziehen.
Einmal kam Traugott Schlampert überselig
nach Hause. Lotterie wonnen, Lotterie wohnen!
lallte er immer wieder, weiter brachte er nichts heraus.
Bald lag er auf einem übersintlichen Sofa aus
Urgroßväters Zeiten und schnarchte drauf los. Selma,
seine bessere Hälfte, wusste nichts von einem
Lotterielos; neugierig kramte sie Traugotts Taschen aus,
ohne einen Anhaltspunkt für das Vorhandensein eines
Glücksloses zu finden, selbst das Portemonnaie mit dem
fälligen Wochenlohn war und blieb verschwunden. Sollte
Schlampert mit einigen Arbeitskameraden heimlich gespielt
haben und Gewinn nebst Portemonnaie von diesen wegen
Traugotts Befinden zurückbehalten sein? Nur
so war es auszudenken.
Am anderen Morgen kam Selma Schlampert mit rotverweinten
Augen an und erzählte, dass der Malermeister die Hälfte
der Belegschaft entlassen habe, ihr Traugott sei nicht
dabei und das stelle er als Lotteriegewinn dar. Vom Geld
und der Geldtasche wisse er nichts mehr, es musste bei
dem Zechgelage mit den Entlassenen verloren
gegangen sein -.
Und das Unglück schreitet schnell.
Zwei Stunden später brachte der Postbote für
Schlamperts einen der so unbeliebten Einschreibebriefe, -
die Räumungsklage vom Amtsgericht.
Frau Schlampert zerfloss bald in Tränen um die Familie.
Wenn die wenigen dürftigen Möbel, von den Eltern und
Großeltern ererbt, nicht noch vor dem Termin anderweitig
untergestellt werden konnten, mussten sie als Pfand für
die schuldige Miete zurückbleiben, bis letztere bezahlt
war. Das war gleichbedeutend mit Obdachlosigkeit der
Familie, denn kein Hauswirt vermietet an eine Familie
ohne Hausrat, der ihn schlimmsten Falles für ausfallende
Miete als Pfandobjekt schadlos halten konnte.
All das Weinen änderte an der Tatsache nichts, das
sah auch die besorgte Frau Schlampert ein. Bald ging sie
zur Arbeitsstelle ihres Traugott und überließ ihm den
Brief, mochte er zusehen, wie er seine Familie vor dem
Allerschlimmsten schützen konnte.
Uns tat die Familie sehr leid, helfen konnte ihnen
niemand. Der Armenvorsteher des Bezirkes konnte erst
eingreifen, wenn der Ernährer arbeitslos war oder durch
Krankheit und Tod für die Familie untragbare
Verhältnisse eintraten. Beides war nicht der Fall.
Arbeitslosenunterstützungen gab es seiner Zeit noch
nicht.
Der Fall schien hoffnungslos, da nahte Rettung in Gestalt
der Sonntagszeitung, die vor mir auf dem Kaffeetisch lag
und die ich flüchtig überflog. Bauverein sucht für
seine Häuser einen an selbständige Arbeiten gewohnten
Maler in Dauerstellung bei freier Wohnung und
tarifmäßiger Bezahlung zum sofortigen Eintritt.
Persönliche Meldung usw.
Traugott Schlampert blieb am nächsten Tag der Arbeit
fern und bemühte sich um den Posten.
Er hatte Glück, allerdings musste er rücken.
Drei Tage später brachten uns Schlamperts ihre Kinder
zur Übernachtung auf dem Sofa und den Stoffballen.
Morgens vier Uhr hatten zwei Arbeitskameraden des
Traugott mit diesem gemeinsam das wenige Hab und Gut auf
den Fahrdamm gesetzt und so dem Zugriff des
Hauseigentümers entzogen.
Gerade als der mit kargem Hausrat beladene Kohlen-Plattenwagen
durch Menschenkräfte bewegt, der sicheren Unterkunft
zustrebte, kam der Hauseigentümer, um mit grimmen
Gesicht den Schaden festzustellen.....
Die Kinder waren schon munter, als sie von der Mutter
nachgeholt wurden. Wir aber freuten uns, der in Not
geratenen Familie mit nichts geholfen zu haben.
Traugott Schlampert fand einige Zeit später Gelegenheit,
seinen Dank abzustatten.....
Treu und brav hatten Bertchen und ich gescharwerkt, um
uns über Wasser halten zu können. Einige Privatkunden
hatten sich eingefunden, dafür war aber die Stille
Zeit in der Konfektionsbranche eingetreten.
Ein Versicherungsagent war der erste Kunde, Er ließ sich
vollkommen neu einkleiden, dafür übertrug ich ihm zwei
Lebensversicherungen für meine Frau und mich. Nach zwei
Monaten hatte er außer den Prämienzahlungen von acht
Mark, die er für mich geleistet haben wollte, nichts
bezahlt. Am dritten Fälligkeitstage stellte sich ein
neuer Kassierer ein, der auch die beiden Quittungen für
die ersten zwei Monate nochmals kassierte. Weitere
Zahlungsausfälle gleichfalls als sicher
geltender unsicherer Kantonisten brachten uns
in eine üble Lage, die sich noch verschlechterte, als
nach zehnmonatlicher Ehe der Stammhalter
Berthold eintraf.
Nichts wurde uns nun geschenkt, was die prekäre
Lebenslage abgeschwächt hätte. Fast zwei Jahre hatten
wir uns auf schwere Art durchs Leben gekämpft, als die
ersten ernsteren Zahlungsaufforderungen einliefen.
Die Einkünfte reichten kaum noch zum bescheidensten
Lebensunterhalt, geschweige denn zum Ausgleich
eingegangener Verpflichtungen.
Auf dem Gesamteinkaufsbetrage von fünfhundertvierzig
Mark lastete noch eine Restschuld von 50 Mark. Mit den
Ratenzahlungen waren wir bereits über drei Monate im
Rückstand. Die unabwendbare Katastrophe nahm ihren
Anfang.
Der befürchtete Einschreibebrief auf Herausgabe der
Sachen, die ja vertragsmäßig bis zur restlosen
Bezahlung Eigentum des Lieferanten bleiben, traf unter
Androhung der Klage ein.
Folgender Wortlaut, der die Rechtslage unzweifelhaft
kennzeichnete, uns jedoch als größtes Unrecht erschien,
stürzte uns in Angst und Sorge:
Sie sind Ihren Zahlungsverpflichtungen laut
Kaufvertrag Paragraph 5 nicht nachgekommen. Da Sie
bereits über drei Monate im Zahlungsverzuge sind, auch
unsere Mahnungen erfolglos blieben, machen wir hiermit
unser Eigentumsrecht laut Vertragsbestimmung geltend und
lassen die Sachen am 15. Juli dieses Jahres, vormittags 7
Uhr wieder abholen. Die vertragsmäßig vorgeschriebene
Schlussrechnung lassen wir hierunter zu Ihrer Kenntnis
folgen:
|
Für
Antransport der Möbel |
25,oo
Mark |
|
Für
Leihgebühr für 22 Monate à 10,- Mark |
220,oo
Mark |
|
Für
Unterschiedsbetrag des Wertes zwischen Alt und
Neu (Paragraph 6) lt. Abschätzung 50 % des
Neuwertes |
270,oo
Mark |
|
Für
Rücktransport zur Verkaufsstelle |
25,oo
Mark |
|
Für
Mahn- und Schreibgebühren |
5,oo
Mark |
|
Zusammen |
545,oo
Mark |
|
Hiergegen
Anrechnung der bisher geleisteten Zahlungen |
495,oo
Mark |
|
Mithin
bleiben noch zu zahlen |
50,oo
Mark |
Dieser Betrag von fünfzig Mark wird
mit dem Abtransport der Möbel fällig.
Wir machen Sie darauf aufmerksam,
dass wir bei Verweigerung der Herausgabe unseres
Eigentums gezwungen sind, den Klageweg auf Ihre Kosten zu
beschreiten.
Hochachtungsvoll
Schwarz, Elend & Co. G.m.B.H.
Wer
nie seinBrot mit Tränen aß ,
wer nie in kummervollen Nächten
auf seinem Bette weinend saß,
der kennt Euch nicht
ihr himmlischen Mächte!
|
So hatte einst eine Königin
gesprochen.
Erst lange Zeit später lernten wir den tiefen Sinn
dieses Ausspruches an uns selbst kennen.
Nach Verweigerung der Herausgabe unseres
Hausrates bekamen wir die gerichtliche Vorladung:
In Sachen S.E. und Co. G.m.b.H. gegen Berthold
Jetschke und Ehefrau zugestellt -. Der Jammer war
groß.
An einem Sonnabend nahm ich die letzte Mark vom
Wirtschaftsgeld, um in einem Anwaltsbüro Auskunft zu
erbitten.
An der Rechtslage ist nichts zu deuteln,
erklärte der Rechtsanwalt, Sie lassen den Termin
herankommen, um Zeit u gewinnen und verpflichten sich,
unter Klarlegung Ihrer Notlage, dem Gericht und dem
Kläger gegenüber zur restlosen Vertragserfüllung
innerhalb vier Wochen. Dazu stellen Sie einen Antrag, dem
Urteil, das auf Antrag des Klägers gefällt werden muss,
erst nach etwaiger Nichterfüllung des Vertrages
innerhalb des von Ihnen befristeten Zeitpunktes,
Rechtskraft zu erteilen. Das Gericht kann und wird auch,
nach den bisherigen Gepflogenheiten, Ihrem Antrage
gemäß entscheiden. Sollten Sie den Zahlungstermin nicht
einhalten können, dann ist das Urteil sofort
rechtskräftig. Nun fassen Sie Mut, es wird schon alles
gut werden.!
Zu zahlen brauchte ich für die Auskunft nichts, meine
bangende Berta konnte noch Einkäufe
vornehmen. Für die eine Mark erhielten wir seinerzeit
noch ein Brot, ein Pfund Mehl, 1 Liter Magermilch, ein
halbes Pfund Margarine und 200 Gramm Gehacktes; also
notfalls für zwei Tage Lebensmittel für zwei Erwachsene
und ein Kind.
Not ist der beste Lehrmeister für die Bescheidenheit!
Neue Hoffnung beseelte uns. Vier Wochen wollten wir
darben, nur, um unser Heim erhalten zu können, das wir
mit so großer Mühe und Ausdauer gegründet hatten.
Acht Tage später war die Miete für zwei Monate fällig,
das waren 46 Mark und die Lebensversicherung für
dieselbe Zeit mit acht Mark, zusammen 54 Mark.
Fünfzehn Mark waren erst für die Miete zurückgelegt;
für Essen und Trinken war kein Pfennig mehr vorhanden.
Trockenes Brot, Mehlsuppe, Kartoffelsuppe, Kartoffeln mit
Heringstunke und wenn es viel wurde, Kartoffelpuffer in
Fassfett gebacken, waren unsere spärliche Nahrung. Für
den Stammhalter wurde täglich ein Liter Magermilch für
6 Pfennige besorgt. Wie schnell vergeht doch die Zeit,
wenn Unheil in Aussicht steht.
Die Woche war herum, acht Mark verdienst und verzehrt.
Vierundfünfzig Mark Verpflichtungen waren fällig. Wir
rechneten bereits aus, wann wir am Ende angelangt sein
würden.
Verzweiflung bemächtigte sich unser, wenn wir unsere
abgemagerten Gesichter und die kümmerliche Entwicklung
unseres herzenslieben Holdi beobachten
mussten. Stolz, dümmer als er gar nicht gedacht werden
kann, ließ uns von einer Benachrichtigung unserer
nächsten Angehörigen Abstand nehmen. Gleich einem
Ertrinkenden ergriffen wir den letzten Strohhalm, um uns
über Wasser zu halten.
Das Sinnbild der Treue, die Eheringe und was sonst noch
beleihbar erschien, mussten zum Versatzamt (Pfandleihe)
wandern. Meinem treuen Weibe war dieser Weg unmöglich,
ich selbst musste ihn beschreiten.
Fünfundzwanzig Mark, statt der erhofften fünfzig, waren
der Erlös was sollten wir beginnen?
Hunger von früh bis spät, den ganzen Tag auf dem Wege
nach Arbeit und keine Aussicht darauf, so konnte das
nicht weitergehen.
Inzwischen war auch die Verhandlung wegen Herausgabe des
auf Abzahlung gekauften Hausrates nach der Voraussage des
Rechtsanwaltes entschieden worden. Unaufhaltsam rann die
Zeit.
Vierzehn Tage waren nur noch bis zur Fälligkeit der
ausgeklagten Verbindlichkeiten keine Aussicht auf
Rettung in höchster Not.
Der Stolz war gebrochen, ich musste mich meinen
Angehörigen anvertrauen, sollte die Familie nicht
untergehen. Den Eltern in ihrem beschaulichen Dasein
diese Sorge aufbürden? Das wollten wir nicht. Also
offenbarte ich mich den in auskömmlichen Verhältnissen
lebenden ältesten Bruder Max. Zu gleicher Zeit war auch
ein Brief an den zweiten Bruder Ernst fällig, in dem ich
von meiner Notlage jedoch nichts erwähnte. In der
Aufregung verwechselte ich die Briefumschläge. Beide
Briefe kamen an die falsche Adresse.
Bruder Max erhielt den Brief an Bruder Ernst und
umgekehrt. Beide tauschten sich die Briefe aus.
So kam Max auf Umwegen doch in den Besitz des ihm
zugedachten Briefes, nur, dass Ernst ebenfalls Kenntnis
von dem mir drohenden Unheil erhielt.
Acht Tage vor dem gefürchteten Zahlungstermin traf
Bruder Max ein, mit ihm die Rettung aus größter Not.
Sein erster Weg war zur Firma Schwarz, Elend & Co
GmbH und einigen anderen Firmen, bei denen er die von mir
eingegangenen Verpflichtungen erledigte. Nach einigen
Stunden hatte ich die Quittungen in den Händen und
konnte, von der größten Sorge befreit, beruhigt
aufatmen. Dann hatte der Bruder angeblich noch
persönliche Besorgungen in Berlin auszuführen und nahm
meine tapfere Frau wegen deren Ortskundigkeit mit.
Nach kaum einer halben Stunde kamen beide schwer beladen
mit allen nur erdenklichen Lebensmitteln, die uns dem
Genusse nach schon längst entfremdet waren, zurück.
Fleisch, Wurst, Speck, Schinken, Butter, Schmalz, Käse,
Eier, Kakao, Kaffee, Zucker, kurz alles, was beim
Kaufmann zu verhandeln war. Auch unser herzenslieber
Holdi wurde mit allerlei bedacht. Das waren meines lieben
Bruders persönliche Besorgungen.
Schnell wurde ein, wenn auch bescheidenes, so doch
köstlich mundendes Essen zubereitet. Unsere Empfindungen
für die Befreiung aus größter Not mit Worten zu
beschreiben, ist uns nicht möglich.
Nun sagt mir einmal ehrlich, wo Ihr noch Schulden
zu bezahlen habt, fragte Max, wenn ich einmal
dabei bin ist es besser, wir machen reinen Tisch.
Berta und ich sahen uns fragend an, nein, wir hatten
keine Schulden mehr außer der großen Schuld gegen den
hilfsbereiten Bruder.
Ich habe Eure Hände schon lange betrachtet, wo
sind denn Eure Trauringe -?
Daran hatten wir in unserer freudigen Aufregung gar nicht
gedacht, auch nicht an die Mietsschuld. Das war uns
unangenehm.
Der Bruder nahm die Pfandscheine und das Mietsbuch und
befreite uns auch von dieser Sorge.
Eine Schuldenlast von zweihundert Mark für die
kommenden Tage wurde uns von den Schultern genommen.
Fünzig Mark für die kommenden Tage wurden uns noch in
die Hand gedrückt.
Wenn es Euch möglich ist, zahlt uns das Geld
so zurück, wie Ihr es ohne Sorge entbehren könnt, wenn
nicht, dann bekommen unsere Kinder später eben etwas
weniger als ihnen sonst zufallen würde. Dass wir
diese echt brüderliche Handlungsweise nie vergessen
können, bedarf keiner besonderen Erwähnung.
Drei Jahre lang haben wir für die Abtragung der
Ehrenschuld benötigt, und jede Rückzahlung war für uns
eine Freude und Erleichterung.
Als der Bruder abgereist war, traf noch ein größerer
Geldbetrag von Bruder Ernst ein; auch er wollte uns
hilfsbereit unter die Arme greifen. Wir ließen den
Betrag mit herzlichen Dank zurückgehen, um uns nicht
irgendwie verleihen zu lasen.
Wie es nun einmal so ist, die Eltern
erfuhren einige Wochen später doch von dem Geschehenen
und sandten uns eine mittlere Bahnkiste mit allen
erdenklichen Futtermitteln.
So wurde die erste und gefährliche Klippe, die sich
unserem Eheschiff gefahrdrohend entgegenstellte, doch
noch glücklich umsegelt.
Durch die gute Wendung des Schicksals waren unsere Sorgen
nicht behoben, die Schulden nicht geringer und das
Einkommen nicht größer geworden. Wohl aber war der
Pflichtenkreis gewachsen. Das uns so selbstlos
entgegengebrachte Vertrauen durfte unter keinen
Umständen enttäuscht werden.
Wir sorgten, arbeiteten und bangten von neuem, das
Notgeld von fünfzig Mark wurde vorsorglich beiseite
gelegt.
Vor Räumung der Lager und Eingang neuer Aufträge aus
dem Ausland gelangten keine Arbeiten zur Ausgabe an die
Zwischenmeister.
Die Maßschneiderei war alles andere als lohnend gewesen.
Wer Geld hatte, rauchte sich nicht vier Treppen hoch zu
einem unbekannten Meister zu bemühen. Geschäftskunden
besaß ich nicht, da wir unsere bescheidenen Einkäufe
billigkeitshalber bei den Straßenhändlern
vornahmen. Gute Bekannte hatten uns bisher
nur das Geld aus den Taschen gezogen. Teilweise hatten
wir außer dem Verlust des Arbeitslohnes auch noch die
Auslagen für Stoffe und Zutaten eingebüßt.
So kam ich auf den Gedanken, die Schneiderei an den
Nagel zu hängen, um in einer Fabrik als
ungelernter Arbeiter bei bescheidenem, aber sicherem
Einkommen ein neues, hoffentlich sorgloseres Leben zu
beginnen.
Damit war meine treusorgende Berta nicht einverstanden.
Lieber will ich versuchen, bei einem
Zwischenmeister auf Damenmäntel Arbeit zu finden, wobei
Du mir ja behilflich sein kannst, als dass ich die
Aufgabe Deiner Selbständigkeit zugebe. Wir werden schon
über die stille Zeit hinwegkommen.
Dabei blieb es denn auch. Mit den nötigen
Ausweispapieren versehen holte sie sich von einem
Zwischenmeister einen Probemantel, der am nächsten Tag
geliefert werden musste. Wir setzten uns beide daran und
hatten Mühe, die Arbeit zur Zeit abzuliefern.
Für einfache Mäntel gab es 90 Pfennige bis 1,10 Mark
Stücklohn. Eine Mark war also verdient. Auf zwei Mäntel
pro Tag mussten wir kommen, wenn wir wenigsten den
dringenden Lebensunterhalt schaffen wollten.
In der ersten Woche brachten wir es auf neun Mäntel,
dabei hatten wir vom frühen Morgen bis zum späten Abend
gearbeitet. Nebenbei musste ja auch der Kleine gewartet,
Kinderwäsche gewaschen, Essen gekocht, eingekauft und
abgeliefert werden.
Sechs Mark pro Woche mussten für Miete, Licht und
Heizung zurückgelegt werden, es verblieben uns für die
erste Woche mithin nur drei Mark für den Lebensunterhalt.
Nach einigen Wochen schafften wir bei zwölf bis vierzehn
Stunden Arbeitszeit einschließlich Sonntag, vierzehn
Mäntel.
Das Unglück wollte, dass erst unser Holdi, dann auch ich
erkrankten, einer Krankenkasse gehörte ich nicht an.
Trotz Krankenpflege und Hausarbeit schaffte meine Berta
noch vier Mäntel in dieser Woche. 3.60 Mark waren
verdient; wollte denn das Elend gar nicht aufhören?
Zum Glück bekamen wir achtundvierzig Mark für die
aufgegebene Lebensversicherung zurückbezahlt; bei den
furchtbaren Verhältnissen allerdings auch nur ein
Tropfen auf einen heißen Stein.
Unsere einzige Freude war unser lieber kleiner Sohn, ihn
bei dieser furchtbaren Ernährunslage gesund zu erhalten,
war unsere größte Sorge und Pflicht zugleich, wie
sollte er sonst eine etwaige ernstere Krankheit
überstehen?
Es dauerte nicht lange, die Notgroschen mussten trotz
Fleiß, Ausdauer und größter Sparsamkeit angegriffen
werden.
Bald kam eine Zeit, in der auch nicht die geringsten
Lebensmittelvorräte vorhanden waren. Weder beim Bäcker,
Fleischer noch beim Kaufmann hatten wir Schulden gemacht,
dazu fehlte uns der Mut vollkommen.
Zwei der schwersten Tage lagen hinter uns. Zwei Tage, an
denen weder meine Berta noch ich auch nur das Geringste
zu essen hatten. Unserem Sohn hatten wir in diesen beiden
Tagen drei trockene Brötchen, in etwas verwässerter
Milch aufgeweicht, reichen können. Am dritten Tage
standen wir hungernd und frierend geschwächt von unserem
Lager auf.
Holdi erwachte und weinte Hunger! Wir sahen uns
gegenseitig an, weinten ebenfalls heiße Tränen, die
fast das Herz abdrücken wollten und umarmten uns wortlos,
einer beim anderen Schutz und Hilfe suchend, die es doch
nicht zu geben schien. Wir waren beide noch so jung und
hingen so sehr am Leben und trotzdem konnte ich in dieser
furchtbaren Stunde begreifen: Der Tod kann ein
ersehnter Erlöser sein-!
Fort mit solchen feigen Gedanken; ich trug doch die
Schuld an all dem Elend, ich hatte doch in innigen
Liebesstunden meiner Berta Versprechungen über
Versprechungen gemacht, ich endlich musste doch den Weg
aus der Verzweiflung hinausfinden und niemand anderes.
Langsam und herzlich löste ich mich aus der
verzweifelten Umarmung.
Ich schaffe Hilfe, meine liebe Frau, in zehn
Minuten bin ich zurück.
Der Weg führte mich zu unserem Grünkramhändler, bei
dem wir sonst alles einzukaufen pflegten. Gedrückt
stellte ich ihm unsere ganze Notlage vor und beschönigte
nichts.
Können Sie mir auf Vertrauen auf etwa eine Woche
Lebensmittel borgen? Noch weiß ich nicht, von was ich
die Schulden bezahlen könnte; ich werde heute Arbeit in
einer Fabrik suchen.
Herr Jetschke, meine Frau und ich haben Ihnen schon
längst Ihre Sorgen angemerkt, warum kamen Sie nicht
schon früher? Wenn ich niemanden helfen würde
ich habe auf diese Weise schon vieles eingebüßt
Ihnen helfe ich sofort und gerne.
Meine Freude über das ausgesprochene Vertrauen war fast
größer als über die zugesagte Hilfe; ich fasste wieder
Mut und Vertrauen zu mir selbst.
Bepackt mit den nötigsten Lebensmitteln, wobei mi der
Kaufmannmehr einpackte als ich erbat, kam ich daheim an.
Leider gelingt es nur selten, überraschend freudige
Ereignisse im Bild festzuhalten, nur gut, dass das
Gedächtnis uns ein geistiges Wiedererlebe zu vermitteln
vermag.
Wuscht, Wuscht Däs, Däs (Käse)
streckte unter Freudentränen bittend das kleine Kerlchen
seine kraftlosen Ärmchen aus.
Zuerst fielen wir über das Brot her. Während ein
kräftiges Süppchen für den Jungen brodelte,
verschlangen wir gierig das trockene Brot.
Zeit zum Bestreichen oder Belegen des trockenen Brotes
ließ uns der Hunger nicht. Ein halbes Brot haben wir
zwei auf einmal verzehrt.
Nachdem wir einigermaßen gesättigt waren, erzählte ich
Muttern von dem Vertrauen des Kaufmanns und
seiner Hilfsbereitschaft.
Schwere Sorgen um das tägliche Brot waren wieder einmal,
wenn auch voraussichtlich nur auf kürzeste Zeit
überstanden. Mit dem heutigen Tage sollte und musste es
anders werden.
Ich gehe nach den B.E.M Werken, Arbeit
suchen, sagte ich bestimmt zu meiner Frau, da
verdiene ich in einer Woche mehr als wir beide bei der
Näherei zusammen, brauche nur täglich neun Stunden zu
arbeiten und habe jeden Sonntag frei. Wir können dann
mit dem Jungen oft spazieren gehen und uns im
Humboldthain wieder etwas erholen.
Lieber Berthold, antwortete meine Frau,
muss denn das sein? Ich möchte doch so gern, dass
Du Deine Selbständigkeit behältst.
Die Pflicht gegen Euch geht über alles, lass mich
nur handeln, zaudern und abwarten kann nur Verderben
bringen!
Bereits eine halbe Stunde später stand ich vor dem
vielvermögenden Pförtner der B.E.M. Werke
und bat um Vorlassung im Personalbüro.
Sehen Sie einmal da vorn die schwarze Tafel,
an der Sie vorbeigedöst sind, wenn da nichts drannsteht,
werden auch keine Arbeiter eingestellt. Was haben Sie
denn für einen Beruf?
Ich bin selbständiger Schneiderund habe in letzter
Zeit mit meiner Familie viel hungern müssen; die Miete
für den vergangenen und diesen Monat habe ich auch noch
nicht bezahlt. Wenn ich Sie recht herzlich bitte, können
Sie mir nicht Nachricht geben, falls wieder Arbeiter
eingestellt werden?!
Junger Mann, für schwere Arbeit kommen Sie doch
gar nicht in Frage, - na warten Sie mal!
Den Hörer am Ohr spricht er mit der Personalstelle:
Anständiger Junge -, verheiratet Familie
sehr im Druck -. Wenn mal was ist, für leichte
Arbeit sicher gut verwendbar, - wie? Vorlassen? Jawohl
Herr Müller, wird gemacht!
Der Hörer wird angehängt. So, nun gehen Sie nach
dem ersten Quergebäude, parterre links und melden sich
beim Herrn Prokuristen Müller.
Ich knalle die Hacken zusammen, wie wenn ich Soldat
gewesen wäre, vielen Dank, Herr Pförtner!
Schnell eile ich der Personalstelle zu.
Nach einer Viertelstunde verließ ich die B.E.M. Werke
als Lagerarbeiter des Porzellankellers mit einem festen
Wochenlohn von 18 Mark bei neunstündiger Arbeitszeit,
jeden Sonntag frei für meinen lieben Kleinen und die
Mutti.
So tiefbeglückt habe ich Mutter und Sohn selten
abgedrückt, wie an diesem Tage. Der Grünkramhändler
wurde verständigt und freute sich ehrlich über unser
Glück. Bis um späten Abend bauten wir Luftschlösser.
Einige Wochen waren vergangen als ich, zufrieden wie
immer, von der Arbeit nach Hause kam. Ein angenehmer Duft
nach Buletten und Rotkohl mitten in der Woche
kam mir entgegen; lief ordentlich das Wasser im
Munde zusammen. Mädel, rief ich meine Berta
an. Du hast wohl in der Lotterie gewonnen?
Wenn auch das nicht, aber vielleicht haben wir
beide Glück, erst lass mir schnell das Essen
zurechtmachen!
Was wird denn da bloß herauskommen, Erbschaft aus
Amerika oder so etwas ähnliches?
Das Essen war aufgetragen und während wir es uns
schmecken ließen, berichtete meine Frau ganz aufgeregt:
In der heutigen Zeitung wird für sofort ein junges
Ehepaar gegen freie Wohnung zur Übernahme der
Hausreinigung gesucht. Ich habe mich sofort gemeldet, wir
können die Stelle bekommen. Das Haus ist in der Nähe
des B.M.E. Werkes und hat zwei mit Linoleum ausgelegte
Aufgänge. Die Wohnung besteht aus einer großen Berliner
Stube, einer geräumigen Küche und Korridor. Wollen wir
es nicht für zwei Jahre versuchen? Dann sind wir
schuldenfrei und kommen vielleicht doch noch auf einen
grünen Zweig.
Schön wäre das schon mein, Schatz, nur hast Du
die Rechnung ohne die Wirtin gemacht. Die Eigentümerin
lässt uns doch die Möbel nicht herausnehmen, bevor wir
die Miete bezahlt haben. Dann müssen wir laut Vertrag
auch noch ein Vierteljahr Miete im voraus zahlen, falls
wir vor Ablauf der Zeit ziehen wollen. Ohne Möbel
können wir auch nirgends zuziehen.
Der Gedanke an die Aussicht auf ein sorgenfreies Leben
wollte uns nicht loslassen. War denn gar keine
Möglichkeit vorhanden?
Hin und her besprachen wir die Angelegenheit. Das
Schlimme war, dass die Stelle sofort zu besetzen war.
Endlich schien ein Ausweg gefunden zu sein. Bis zum
nächsten ersten wollte Berta täglich zur L..straße
gehen und die Aufgänge sauber halte, das waren vierzehn
Tage. Wenn Sie vierzehn Mal irgend welchen Hausrat
mitnahm, blieb außer den Möbeln nur noch wenig für
einen Umzug übrig. Am 30. November morgens fünf Uhr
mussten wir dann Rücken (vor
Vertragserfüllung heimlich ziehen). Wir konnten unseren
Verpflichtungen später dann doch noch ehrlich nachkommen,
vorläufig würden wir einen Säulenspiegel mit Untersatz
unser einziges Schmuckstück zurücklassen. Das
war nicht so ängstlich, die Eigentümerin wohnte ja im
Nebenhaus, das ihr auch noch gehörte.
Also beschlossen wir.
Unser ehemaliger Nachbar Traugott Schlampert kam uns in
den Sinn. Bei einem früheren Besuch hatten wir uns
überzeugt, dass sie sich wirtschaftlich sehr erholt
hatten, vielleicht konnten sie uns mit gutem Rate
beistehen. Also machten wir Ihnen einen Besuch.
Schlamperts empfingen uns recht herzlich. Sie hörten
sich unseren Kummer an, erzählten viel von ihrem
bisherigen Ergehen und boten sich sofort freiwillig zur
tatkräftigen Hilfe an. Am 30. November früh fünf Uhr
wollte sich Traugott mit zwei Helfern vor meiner Haustür
einfinden und erfolgreich rücken helfen. Den
Wagen dazu musste ich vom Kohlenhändler besorgen.
Obwohl wir erst den 29. November schrieben, herrschte
schon seit einigen Tagen trockene Kälte.
Es war Sonnabend ein Tag vor dem
Rücken als ich gegen fünf Uhr
nachmittags nach Hause kam. Eine würzige Kartoffelsuppe
mit einem Paar delikater Brühwürstchen sollte mich für
die bevorstehende schwere Arbeit stärken. Klein Holdi
musste auf meinen Schoß; ein Kosthappen fiel ja stets
für ihn ab, sonst hätte es mir nicht geschmeckt. Wie
zufrieden waren wir trotz dürftiger Verhältnisse gegen
die vergangenen drei Jahre.
Die Mahlzeit war beendet. Hurtig wurden die wenigen
noch vorhandenen Sachen gesäubert, verpackt und
griffbereit zurecht gestellt. Für unseren kleinen
Strolch bedeutete das Durcheinander einen richtigen
Freudentag. Er musste der Mutti und de Vati
tüchtig helfen. Das Jauchzen nahm kein Ende
unschuldige Kinderseele.
Endlich war alles soweit, wir konnten uns niederlegen. Am
Sonntag früh vier Uhr war für meine Berta und für mich
die Nacht zu Ende. Wir mussten ja noch die Betten
auseinander nehmen und an bestimmten nur
Kleinlebewesen zugängigen Stellen
vorsichtshalber mit Petroleum ausspritzen. Die
Federbetten sollten in einem sehr großen Reisekorb
verstaut werden. Was so die sonstige Morgenarbeit ist,
musste Erledigung finden.
Pünktlich schlug der Wecker kurz an. Auf Filzpantoffeln
und unter Flüstersprache gingen die letzten Arbeiten vor
sich. Sorglos schlief unser Herzensjunge, im warmen
Ofenwinkel auf der Erde verpackt, den Schlaf des
Gerechten.
Kurz vor fünf Uhr war alles vorbereitet. Mit dem
Hausschlüssel bewaffnet schlich ich mit starkem
Herzklopfen die vier Treppen herunter und öffnete
vorsichtig den Toreingang.
Ich konnte meinen Augen kaum trauen, Schneeflocken
durchwirbelten gegen den Laternenschein fast
undurchsichtig die Luft und bedeckten die Straße mit
ihrem reinen Weiß. Um die Straßenecke bog Traugott
Schlampert mit deinen Helfern, jetzt erst konnte ich
etwas erleichtert aufatmen.
Ohne viel Geräusch und Worte wurde der gesamte
griffbereit gestellte Hausrat bis auf einen
Säulenspiegel mit Untersatz dem einzig wertvollen
und entbehrlichen Möbelstück bei
Petroleum- und Kerzenbeleuchtung die vier Treppen
herunter geschafft und im größten Schneegestöber auf
den Fahrdamm gestellt.
Als letztes Stück kam der Riesenreisekorb mit starken
Holzlatten unter dem Bodengeflecht, der die Federbetten
und Küchengeschirr enthielt, an die Reihe. Traugott und
ich setzten auf dem schrägen Bürgersteig kurz ab, der
Reisekorb schien Verstand zu haben. Durch seine Last, die
befestigten Bodenleisten und den fast zehn Zentimeter
hohen Schnee rutschte er selbständig nach dem Fahrdamm
zu ein unbezahlbarer Fingerzeig, wie sich bald
zeigen sollte.
Traugott Schlampert blieb mit einem Helfer zum Schutz der
Möbel auf dem Fahrdamm, während der zweite Helfer mit
mir den Plattenwagen vom Kohlenhändler holte. Bald war
der Wagen gefährlich anmutend beladen, die reinste
Porzellanfuhre.
Mein lieber Schlampert, das können wir nicht
riskieren, der Wagen kippt uns um, wir müssen zwei mal
fahren, sagte ich zu Freund Schlampert. Da kam mir
auch schon der rettende Gedanke: Den großen
Reisekorb mit den Holzleisten nehmen wir runter, er ist
uns vorhin vom Bürgersteig abgerutscht. Wir machen einen
Strick daran und meine Frau fährt damit Schlitten bis zu
L...straße, damit ist uns sehr geholfen.
Der Gedanke wurde ausgeführt, die Sachen zum Teil wieder
abgeladen.
Ein Versuch, den großen, schweren Korb mit Hilfe eines
Strickes auf dem Schnee fortzubewegen, gelang glänzend.
Wir legten noch einen Tisch verkehrt darauf, in diesen
noch vier Stühle und andere Kleinigkeiten. Ungeahnt
standen uns zwei Transportmittel zur Verfügung, bestimmt
haben wir in diesem Jahre das erste Berliner
Schlittenfuhrwerk auf die Beine oder viel mehr auf die
Kufen gebracht.
Die Fahrt ging los. Traugott mit seinen Helfern übernahm
den Plattenwagen, meine Frau mit mir den
Korbschlitten.
Geräuschlos zog der Korbschlitten seine Bahn und erregte
bei so manchem Frühaufsteher Heiterkeit. Auch die
bekannten Berliner schnoddrigen Zurufe der durch das
erste Schneetreiben freudig gestimmten Passanten, die die
Rück-Fuhren wohl erkennen mochten, blieben
nicht aus.
Um 9 Uhr stand, bis auf den als Pfand in der alten
Wohnung verbliebenen Pfeilerspiegel nebst Untersatz, in
der neuen Wohnung alles an Ort und Stelle. Auch unseren
Stammhalter hatte Muttchen nachgeholt.
Ein kräftiges und nachhaltiges Frühstück nebst Bier
und einigen Klubschen (größeres Glas
Branntwein) sowie zwei Mark Trinkgeld für jeden Helfer
waren die gesamten Umzugskosten. Traugott Schlampert
lehnte für sich jedes Trinkgeld ab.
Um elf Uhr vormittags sprach ich bei der Eigentümerin,
Frau Stolpmann, die bereits von meinem Umzug unterrichtet
worden war, vor und erklärte ihr die ganze Sachlage. Den
zurückgelassenen Säulenspiegel versprach ich,
baldmöglichst gegen die noch schuldige Miete einzulösen.
Frau Stolpmann war sehr verstimmt und ungehalten,
versprach aber auf höfliches Bitten dennoch, die Wohnung
nach Möglichkeit sofort zu vermieten, obwohl ich das
nicht verdient und eigentlich noch ein Vierteljahr
nachzuzahlen habe.
Zu Hause angelangt freute sich meine Berta über den
glücklichen Verlauf des gewagten Unternehmens. Wir
fühlten uns glücklich wie selten zuvor, ich gewann
meinen alten Humor wieder.
Räumlich sagte und die neue Wohnung zu, sie hatte nur
den einen Fehler, dass wir in den ersten Wochen die
Bettstellen in mit Wasser gefüllte Konservenbüchsen
stellen mussten, um die in Regimentsstärke auftretenden
Plagegeister von ns abwehren zu können. Wir hatten ja
schon Erfahrungen in der Bekämpfung dieser Haustierchen
und konnten uns ihrer wiederum durch Ausdauer, reichlich
Insektenpulver, Ausräucherung und vollständige
Renovierung der Wohnung fast restlos entledigen.
Mag der Ausspruch Ungeziefer bedeutet Glück
auch noch so unzuverlässig sein, für uns war er
zutreffend. Der Höhepunkt der mir vom Schicksal
auferlegten Sorgenlasten war überschritten. Ein sonniges
Leben, nur wenig vom Unwetter getrübt, nahm seinen
Anfang. Mir aber und den Meinen sollte der bisherige
schwere Lebenskampf sowie alle überstandenen Sorgen,
Nöte und Mühen Lehrmeister für unser künftiges Leben
sein.
Noch heute danke ich dem Schicksal, dass es mir diesen
schweren Lebensweg vorschrieb. Wie hätte ich sonst wohl
mein späteres Glück in seiner ganzen Größe und Tiefe
empfinden können.
Ein Jahr schon hatten wir uns in dem Bestreben, ein
menschenwürdiges Dasein zu schaffen, in unserem neuen
Heim eingelebt.
Dem kleinen Berthold hatte sich ein Schwesterlein
Charlotte zugesellt. Wir waren nach all den durchlebten
Erfahrungen und Bitternissen mehr als bescheiden geworden
und fühlten uns glücklich und geborgen.
Das Sauberhalten der Hausaufgänge, die Sorge für das
tägliche Leben, die Wartung der kleinen Trabanten und
was sonst noch alles auf meiner Eheliebsten lastete,
waren ihr zu unentbehrlichen Bedürfnissen geworden.
Auch mir zeigte sich das Leben, durch die geregelte
Tätigkeit als Fabrikarbeiter im angenehmeren Lichte.
Kleinere Nebenverdienste verbesserten unsere Lebenslage
merklich. Bald waren wir den oft sehr drückenden
Kinderschuhe der Ehe entwachsen. Die Pflege
unseres Nachwuchses wurde uns durch die Verhältnisse
sehr erleichtert.
Der kleine Hof und das Gärtchen, ringsum von hohen
Mauern und Hinterhausfronten Berliner
Mietskasernen umgeben, erhielten wenig Sonne,
trotzdem waren en Holunder- und einige Ziersträuche
vorhanden, auch sorgte Graswuchs für ein
gartenähnliches Aussehen.
Unseren Kindern war das zu unserer Pförtnerwohnung
gehörende, verschlossene Gärtchen zu einem förmlichen
Eldorado geworden. Die Büsche diensten als
Versteck, dicke Decken, auf dem Rasen ausgebreitet,
verlockten zu allerlei Kapriolen.
Wie sehsüchtig drückte sich da an den
Fensterscheiben der Hinterwohnungen so manches
Kindernäschen breit, in dem Verlangen, mit unseren
kleinen lieben Strolchen im Garten so recht ungebunden
spielen zu dürfen.
Das Geschwisterpärchen war so drollig, lieb und artig,
dass es auch die Aufmerksamkeit anderer Mitbewohner auf
sich zog. Wie oft flogen ihnen aus den geöffneten
Fenstern zärtliche Worte oder gar Näschereien zu; wir
waren stolz auf unsere Kleinen, wie Eltern das nur sein
können.
Zwei zu einem Kaufladen gehörende Parterrefenster hatten
es den Kleen besonders angetan. Da kam so manche bunte,
leere Schachtel, mit denen es sich so schön bauen ließ,
und so mancher Leckerbissen heraus. Es war ganz
selbstverständlich, dass wir gleich- oder besser
gearteten Kindern die Tür zu diesem bescheidenen
Kinderparadies gern öffneten, um sie an den Freuden zu
beteiligen.
Ein Hallo entstand stets, wenn Holdi und
Lottchen spurlos aus dem verschlossenen Garten
verschwunden waren. Suchen brauchten wir nicht lange, wir
fanden die kleinen Kadetten im Hinterzimmer des Kaufmanns,
irgend etwas gutes schnabulierend vor. Onkel
Willi hat uns Fenster reindehebt rief uns der
Junge freudig zu....
Unser Dasein verlief in bester Harmonie und eines Tages
waren wir schuldenfrei. Mit Freude und Zufriedenheit
hatten wir beim Bruder Max die Restschuld abgetragen, die
Dankesschuld würde bestehen bleiben. Da kamen eines
Tages ganz unerwartet Wetterwolken auf, die uns vom
Glück Verwöhnten aus unserer Sorglosigkeit
aufscheuchen sollten, - ich wurde arbeitslos.
Im Hause befand sich eine Gastwirtschaft mit einem
größerenVereinszimmer. Dem Besitzer, Gastwirt Robert
Buchwald, hatte ich mich verschiedentlich behilflich
erweisen können und davon men Gutes gehabt. Wenn nichts
zu tun war, hatte ich auch manches Mal meine
künstlerischen Phantasien auf dem Klavier
austoben lassen. Dieser und jener der Gäste waren dazu
gekommen und hatten in angeheiterter Stimmung meine
Spielerei wohl auch für Musik gehalten und ihre
Sangeskunst in gleicher Vollendung
eingestreut. Wenn wirklich Robert Buchwalds Schäferhund
zum Gotterbarmen losjaulte, noch ehe ich den Deckel vom
Piano hob, bewies das nur die Gelehrigkeit und das
Feingefühl dieses Tieres. Noten konnte ich nicht,
trotzdem fühlte ich mich als Meister, wenn
kurz vor der Polizeistunde der Gesang zechfreudiger
Gäste so wunderbar mit meinem Spiel disharmonierte.
Dieses Klavierspiel brachte manchen
Nebenverdienst, andererseits machte mich das gespendete
Freibier für den Kapellmeister etwas
leichtlebig. Es kam vor, dass ich außer den
Klaviergroschen nach Feierabend auch noch
Geld beim Karten- und Billardspiel zusetzte.
Natürlich war ich ein gern gesehener Gast in der
Buchwaldschen Gastwirtschaft, noch dazu als der
Theaterverein Euterpia seinen Sitz nach dort
verlegte hatte und seine wöchentlich zweimaligen
Übungsabende mit einem Fidelitas beschloss.
Während meiner nunmehrigen kurzen Arbeitslosigkeit
merkte ich sehr bald, dass diese Nebeneinnahmen als
Klavierspieler auf C-Dur mit teilweise richtigen
Übergängen mehr und mehr eine
Nebenausgabe wurde. Ich hatte alle Mühe, von
diesen Fidelitasabenden loszukommen. Der Zufall kam mir
zu Hilfe.
Wieder einmal war Fidelitas des Theatervereins Euterpia.
Ich hatte Kopfschmerzen vorgetäuscht und ein Mitwirken
als Kapellmeister zur Verhütung neuer
Nebenausgaben während meiner
Arbeitslosigkeit abgelehnt.
Da ertönt am späten Abend die Flurklingel. Nichts gutes
ahnend öffnet mein beherztes Weib. Vor der Tür steht
der Erste Herr Vorsitzende und die
Erste jugendliche Liebhaberin des
Theatervereins Euterpia und versuchen auf meine bessere
Hälfte einzuwirken, ihre Erlaubnis zum
freventlichen Spiel zu geben.
An einer Holzkiste lässt sich nun einmal nichts
löten; meine Berta blieb fest und ich mit ihr.
Schauspieler lassen sich so schnell
nicht abweisen. Was nichts vermochte, Schmeicheleien wie
Schöne Frau und Sie sind doch noch zu
jung zum Vertrauern, kommen Sie mit runter und tanzen Sie
mit uns. Hier haben Sie gleich drei Mark für
den Kapellmeister, damit wir das nicht vergessen,
verfehlten letzten Endes die beabsichtigte Wirkung doch
nicht.
Meine bessere Hälfte blieb zwar daheim, ich aber durfte
mein Kopfweh beiseite legen und mein letztes
Debüt als Kapellmeister antreten.
Als ich Tür zum Vereinszimmer der Euterpia kaum eine
Hand breit geöffnet hatte, stürmte Harras mit
eingeklemmter Rute zwischen meinen Beinen hindurch und
riß mich rücksichtslos zu Boden. Ob das wohl etwas zu
bedeuten hatte?
Schimpfend und wetternd unter dem gleichzeitigen
Hallo der Euterpia-Jünger betrat ich das 150
Personen fassende Vereinszimmer und rasselte für drei
Mark Tanzmusik runter.
So fidel war es bald bei keinem Fidelitas zugegangen und
auch nicht so ausdauernd. Ich wusste schon nicht mehr,
was ich noch spielen sollte. Mein Repertoire war nicht
groß. Ich hatte alles schon zwei- bis dreimal
durchgespielt, da kommt die Erste Liebhaberin
mit einem Schnäpschen angeschaukelt: Herr
Kapellmeister, bitte spielen Sie doch mal Ich weiß
ein einsam Plätzchen auf der Welt !
Aber Fräulein Felicitas, beim Fidelitas das
?? Hach, wird doch überall als geführvoller
Walzer getanzt.
Ich wusste wirklich nicht, was ich tun sollte, gehört
hatte ich es schon oft, fand es aber abstrakt und
gefühlsroh. Was half es. Ich degradierte dieses schöne
Glaubensbekenntnis an die Eltern zum Walzerlied.
Kaum hatte ich das Stück beendet, trat ein etwas
angeheiterter Fremder aus den Gastzimmer an mich heran
und sagte: Herr Kapellmeister, so schön laut
spielen wie Sie kann ich zwar nicht, aber ich werde Sie
etwas ablösen, Sie werden Ihre Hände auch schon recht
spüren.
Bereitwillig und gern machte ich, nichts Gutes ahnend,
Platz; es war bald Feierabend.
Ein paar Worte liebe Theaterfreunde,
führte sich mein Ablöser ein, ich werde mir
erlauben, Ihnen ein schönes Gesangsstück mit
Selbstbegleitung vorzutragen und bitte um Gehör für den
bescheidenen Vortrag.
Alles wurde still. Ein kurzes getragenes Vorspiel, dann
dringt das soeben verschandelte Lied vom Elterngrab
ergreifend und mahnend zugleich, von selten volltönender
Baritonstimme meisterhaft vorgetragen, unter weicher
anschmiegender Klavierbegleitung strafend an unsere Ohren.
Drei Strophen trägt der unbekannte Gast vor; alles
lauscht ernst und aufmerksam dem Vortrage dieses
zweifellosen Künstlers. Einige gedämpfte Schlussakkorde
beschließen das soeben Gehörte.
Nur einzelne Beifallsbezeugungen, von Mitgliedern, die
die Situation wohl nicht erfasst hatten, ruhige
anerkennende Worte des Beifalles von anderer Seite. Der
Vorsitzende dankt dem Vortragenden mit besonderer Wärme;
ich selbst fühle mich gezwungen, meinen Dank mit einer
besonderen Entschuldigung über die Entwürdigung eines
guten Liedes abzustatten.
Nun lassen Sie sich Ihr Fidelitas nicht
verleiten, Jugend ist nun einmal Jugend, Sie haben wohl
alle begriffen, um was es ging.
Sie haben mir gedankt, ich möchte nicht hinter Ihnen
stehen.
Unser Gast ließ noch den Straußschen Walzer
an der schönen blauen Donau erklingen. Der
Missakkord des Fidelitas war gedämpft. Die Beteiligten
werden diesen Abend nicht vergessen. Nie mehr habe ich
ernste Lieder zu Gassenhauern degradiert. Mit
den Fidelitasabenden musste es für mich sein Bewenden
haben, ich hatte ernstere Pflichten zu erfüllen.
Die Sorge der Arbeitslosigkeit drückte die Stimmung
erheblich nieder; die Familie zählte ja auch vier
Personen, die alle leben wollten.
Gastwirt Robert Buchwald war überall gut bekannt und in
der Welt viel herumgekommen. Wenn möglich, musste er mir
mit Rat und Tat zur Seite stehen. Ich bemühte mich zu
ihm und klagte meine Not und Sorgen.
Ja, mein lieber Jetschke, wenn Sie Wert auf
eine Lebensstellung legen, versuchen Sie es doch mal bei
der Eisenbahn, machte er mir den Vorschlag.
Es soll da zwar etwas weniger Lohn als in
Privatbetrieben gezahlt werden, das wird aber durch die
Versorgung für das ganze Leben doppelt und dreifach
wieder aufgehoben. Wenn Sie sich dahinter setzen und
fleißig arbeiten, können Sie sogar eine Beamtenstellung
erreichen. Soweit ich Sie kenne, schaffen Sie das
bestimmt. Mein Schwiegervater ist Lademeister bei der
Bahn und tauscht mit niemand. Heute Abend kommt er nach
hier, erkundigen Sie sich doch einmal bei ihm.
Das war schönste Musik für meine Ohren, nur wagte
ich nicht daran zu glauben. Zeitlebens die ganze Familie
versorgt zu wissen, soviel Glück konnte es für mich ja
gar nicht geben.
Bester Her Buchwald, schenken Sie auf diesen
Rat zwei Korn und zwei Mollen ein, das muß begossen
werden.
Das werde ich tun, wenn alles geklappt hat,
mein lieber Jetschke, vorläufig nehme ich von Ihnen
nichts an.
Eiligst begab ich mich zu Muttern, ihr
diesen Vorschlag zu unterbreiten.
Ja, mein Kleiner, hast Du denn schon zugesehen, wie
die Arbeiter auf der Strecke die schweren Schienen und
Schwellen schleppen müssen, und mit großen
Stopfhämmern den Steinschlag in dauernd gebückter
Stellung unter die Schwellen treibe? Ich kann nicht
glauben, dass Deine Kräfte das lange mitmachen.
Schwere Arbeit ist auch nur Gewohnheit, und
überlege nur einmal nie wieder arbeitslos, alle
Sorgen um die Zukunft mit einem Schlage behoben,
vielleicht kann ich bald einmal Türschließer oder gar
Beamter werden. Dein Vater ist Chausseewärter und
braucht keine Arbeitslosigkeit befürchten, der meine
Landessekretär, bald wird er in Pension gehen. Sind das
nicht herrliche Aussichten? Mutter und Du habt Euch doch
so auf einen Beamten versteift. Jetzt, wo
diese Möglichkeit vorhanden ist, willst Du mir den Mut
nehmen?
Nein, mein lieber Berthold, dass will ich
absolut nicht, ich möchte nur Dir und uns jede
Enttäuschung ersparen. Die Eisenbahn wartet doch nicht
auf Dich. Für Beamtenstellungen sind so viel
Militäranwärter und Invaliden vorhanden, da darfst Du
nicht falsch rechnen. Freuen würde ich mich sehr und
noch mehr stolz sein, wenn Du nur einen kleinen Posten,
etwa als Bahnwärter oder Schaffner erhalten könntest.
So ging das Für und Wider bis zum Abend.
Ich wollte meinen Vorsatz durchführen, selbst auf die
Gefahr hin, später aufgeben zu müssen.
Robert Buchwalts Schwiegervater saß schon im
Gastzimmer, als ich dieses betrat.
Guten Abend, Herr Keller, es ist gut, dass Sie
schon hier sind, ich habe etwas auf dem Herzen,
sprach ich ihn an.
Guten Abend, Herr Jetschke, kommen Sie nur ran an
den Tisch, ich habe schon gehört, Sie möchten gern zur
Bahn? Wenn Sie als Streckenarbeiter anfangen wollen,
müssen Sie sich bei einer Bahnmeisterei bemühen.
Ob zur Zeit Arbeiter eingestellt werden, ist mir nicht
bekannt. Sie müssen jedenfalls vollkommen gesund sein,
gutes Seh- und Hörvermögen besitzen und sich daraufhin
einer ärztlichen Untersuchung unterziehen.
Einen Moment, Herr Keller, mir ist vor
Aufregung die Kehle trocken geworden, ich muss erst mal
eine Molle trinken. So, nun kanns
weitergehen. Gesund bin ich, hören und sehen kann ich
auch, diese Schwierigkeiten wären also schon überwunden.
Das denken Sie, Herr Jetschke, der Bahnarzt
hat schon manchen gesunden Menschen das
Gegenteil bewiesen und ihm durch solchen Gegenbeweis
einen Strich durch die Rechnung machen müssen. Einem
fleißigen Arbeiter stehen aber immer noch allen
Beamtenstellen bis zum Bahnhofsvorsteher offen, die
nötigen Schulkenntnisse vorausgesetzt. Bei Ihnen
scheint s daran ja nicht zu fehlen und wenn doch,
dann gibt es ja allerlei Schulungs- und Lehrbücher. Das
Eine muss ich Ihnen aber sagen, Sie müssen mit Picke,
Hacke und Schippe auf der Strecke anfangen, dazu ist
Ausdauer und Kraft erforderlich. Sie müssen ja wissen,
ob Sie sich das zutrauen können. Also versuchen Sie es,
vielleicht haben Sie Glück, ob Sie es aushalten, ist
eine andere Frage.
Diese Auskunft war den damaligen Verhältnissen klipp und
klar, für mich war es etwas zu viel auf einmal. De immer
wieder auftauchenden Zweifel an meiner Ausdauer machten
mich zwar missgestimmt, aber nicht mutlos. In dieser
Zweifelsstimmung kam ich daheim an.
Liebe Berta, der Traum ist zwar noch nicht
aus, nur begegne ich in Bezug auf meine Ausdauer durchweg
Zweiflern, leider gehörst Du auch dazu. Trotzdem, ich
gebe das Rennen nicht auf. Ich glaube an mich und werde
den Kampf aufnehmen, kämpfe ich doch für Euch. Es ist
möglich, dass ich morgen zum Arzt muss, lege mir bitte
Wäsche zurecht, ich werde mich sofort einer
Geralreinigung unterziehen."
Eine unruhige Nacht folgte.
Schwere Gewitter rissen mich wiederholt aus dem Schlafe
wach. Strömender Regen klatschte gegen die Scheiben.
Krachende Donner machten das Haus in allen Fugen
erzittern. Ein besonders greller Blitz gefolgt von
splitterndem Bersten riss mich fluchtartig hoch. Nur mit
Hemd und Hose bekleidet, raste ich die vier Treppen
herunter dem gegenüberliegenden Bahndamme zu. Ohne zu
wissen, was eigentlich geschehen war, stand ich
vollkommen durchnässt mitten auf der Strecke. In dem
betäubenden Schreck hatte ich fast den gellenden Pfiff
eines heranbrausenden Zuges überhört. Das Ungetüm von
Lokomotive presste zischend und drohend zu beiden Seiten
Dampf aus und nahm mich in den Lichtkegeln seiner
Scheinwerfer gefangen. Keuchend raste ich mitten im
Gleise die Strecke voraus, nicht fähig, den
Schienenstrang zu verlassen. Kürzer und kürzer wurde
der Abstand. Schliefen denn der Lokomotivführer und der
Heizer, dass sie mich gar nicht in den Lichtkegeln
bemerkten?
Das Unglück wollte es, dass mir die nur gegürteten
Hosen abrutschten. Mit fast tierischem Gebrülle riss ich
sie mir ganz vom Leibe. Ich fühlte mich fast von der
Maschine gefasst, da warf ich mich schweißtriefend mit
letztem kraftangestrengtem Hilferuf mitten in das Gleis.
Der Zug rollte mich hinweg, ich war gerettet. Mein
letzter Hilferuf hatte meine Frau munter gemacht, sie
rüttelte mich wach, Gott sei Dank, es war nur ein Traum,
dem ein nunmehr tiefer Schlaf folgte.
Früh am Morgen machte ich mich fertig und stand punkt
acht Uhr in der Schreibstube der Bahnmeisterei.
Streckenarbeiter werden eingestellt,
antwortete der Beamte auf meine Frage. Sie dürften
den Anforderungen jedoch kaum gewachsen sein.
Würden Sie mich bitte beim Herrn Bahnmeister
melden, ich muss unbedingt Arbeit haben.
Im Nebenzimmer, dessen Tür offen stand, hatte der
Dienstvorsteher dem Gespräch zugehört. Kommen Sie
mal rein, rief er mir zu.
Bescheiden klopfte ich an die geöffnete Tür, nahm
Haltung an und brachte mein Anliegen vor.
Junger Mann, entgegnete der Bahnmeister auf
meine Bitte, gestern früh trat ein Bahnarbeiter,
der Sie um Kopflänge überragte und einunddreiviertel
Zentner Gewicht hatte, bei der Rotte ein, bereits um ein
Uhr mittags verlangte er die Papiere zurück, da ihm die
Arbeit zu schwer sei. Die ganzen Umstände, die eine
Neueinstellung mit sich bringt und die ärztliche
Untersuchung haben nur unnütze Arbeit und Kosten
verursacht. Bei Ihnen ist das schon im voraus anzunehmen.
Es tut mir sehr leid, ich muss im Interesse der
Verwaltung arbeiten.!
Herr Bahnmeister, der Mann hat bestimmt keine
hungrige Familie gehabt. Ich muss für vier Personen
sorgen, wenn ich nicht arbeite, hat meine Familie nichts
zu essen.
Das tut mir ja leid, Ihre Kräfte reichen für
einen Bahnarbeiter bestimmt nicht aus.
O doch, Herr Bahnmeister, wenn ich meine verhärmte
Frau und Kinder ansehe und ich weiß , dass nur ich
helfen kann, dann verleiht mir diese Tatsache im
Verhältnis zu meinem schwächlichen Aussehen
Riesenkräfte. Ich würde ja den Arzt und alle etwaigen
Unkosten selbst tragen, falls ich Sie enttäuschen sollte,
darf ich um einen Versuch mit mir bitten?
Junger Mann, darauf kann ich nur sagen, mit
Versuchen an Arbeitskräften kann sich die Bahn nicht
einlassen.
Entschuldigen Sie bitte die Belästigung; wenn man
nach Hause kommt, stets mit dem Bescheid
abgewiesen, verliert man allmählich den
Lebensmut, guten Tag.
Meine Hoffnungen waren zunichts geworden, wie im Traum
zog ich die Tür hinter mit zu und entfernte mich
langsamen Schrittes ohne auf meine Umgebung zu achten.
So war ich am Ausgang des Bahnhofes angekommen, als
mich jemand anrief: He, Sie!, ich sah hoch,
der Pförtner am Torweg winkte mir zu.
Waren Sie in der Bahnmeisterei nach Arbeit?
Ja, leider erfolglos.
Da holen Sie sich mal Ihre Papiere ab, die haben
Sie liegen lassen:
War das bei dieser Aufregung ein Wunder? In der
Schreibstube schickte mich der Schreibgehilfe zum
Bahnmeister.
Lieber wäre ich schon selbst hier geblieben, Herr
Bahnmeister.
Das geht ja nun nicht, junger Mann, aber die
Papiere werde ich nun doch hier behalten. Herr Scheumann
im Nebenbüro schreibt Ihnen einen Untersuchungsantrag
für den Bahnarzt aus. Lassen Sie sich diesen Antrag
geben und sich vom Bahnarzt untersuchen. Den Bericht
bringen Sie nach hier zurück. Sind Sie vollkommen gesund,
können Sie morgen früh anfangen. Alles weitere, wenn
Sie vom Arzt kommen.
Vielen Dank, Herr Bahnmeister, ich werde Sie nicht
enttäuschen.
Es sollte wohl so sein, dass ich meine Papiere
vergessen hatte.
Meine Gedankenlosigkeit hatte mit zur Arbeit verholfen
vorausgesetzt, ich versagte beim Arzt nicht.
Hoffnungsfroh begab ich mich zu diesem und übergab ihn
den Antrag zur Untersuchung.
Wer hat Sie denn zu mir geschickt, der
Dienstvorsteher oder der Gehilfe?
Der Dienstvorsteher, Herr Doktor!
Wie ist das bloß möglich gestern sagt er mir,
Riese Goliath hat wegen zu schwerer Arbeit
aufgehört und heute schickt er Sie zur Untersuchung.
Besitzen Sie denn verborgene Riesenkräfte?
Nein, Herr Doktor, dafür aber Familie, für die
ich sorgen muss Ich denke mich ja ach hoch zu
arbeiten, dann habe ich es nicht mehr so schwer. Die
Arbeit schaffe ich bestimmt, machen Sie mir bitte keinen
Strich durch die Rechnung!
Wenn Sie gesund sind, meinen Segen sollen Sie
haben, sagte der Arzt und untersuchte mich
gründlich.
Das Ergebnis war vollkommene Tauglichkeit für den
Eisenbahndienst.
Sie sind gesünder als Sie aussehen. Essen Sie mal
tüchtig Fleisch und Gemüse und trinken Sie täglich
einige Flaschen Malzbier, damit Sie Mumm in
die Knochen bekommen. Hüten Sie sich jedoch vor dem
Saufen, das ist das Gefährlichste, was es für einen
Eisenbahner geben kann.
Inzwischen hatte der Arzt den Untersuchungsbefund
ausgefertigt und übergab ihn mir im verschlossenen
Umschlag für die Dienststelle.
Bald befand ich mich wieder auf der Straße, der Himmel
hing mir voller Geigen.
Morgen früh sechs Uhr melden Sie sich beim
Rottenführer Müller, beauftragte mich der
Bürogehilfe, nachdem er den Untersuchungsbefund gelesen
und mich mit den Bestimmungen für den Eisenbahndienst
bekannt gemacht hatte. Ich war endgültig zum
Eisenbahnbediensteten avanciert.
Frohgemut ging ich, so schnell mich die Füße nur
tragen konnten, zu Frau und Kindern. Eine große
Schüssel bester Magermilchsuppe stand einladend auf dem
Tische bereit, das Erzählen und Beraten wollte kein Ende
nehmen. Zur Feier des Tages gab es am Abend einige schön
knusprig gebratene Kartoffelpuffer. Dann wurden die
Luftschlösser gebaut, eines immer schöner als das
andere und dennoch nicht so schön, wie ich es mir
später in Wirklichkeit bauen konnte.
Ich stand im achtundzwanzigsten Lebensjahre, als
ich am 16. Juni 1907 früh sechs Uhr beim Rottenführer
Müller zum Dienst antrat.
Was haben Sie auf dem Herzen?
Ich soll mich bei Ihnen zur Arbeit melden, Herr
Müller.
Was wollen Sie bei mir denn arbeiten? Auf der
Strecke kann ich Sie nicht brauchen, da hat vorgestern
ein stämmiger Kerl von eindreiviertel Zentner schon nach
sechs Stunden die Arbeit niedergelegt........
Das weiß ich alles schon vom Bahnmeister, er hat
mich trotzdem auf mein Bitten eingestellt und zu Ihnen
geschickt.
Mir soll es recht sein, wenn Sie aber morgen wieder
schmeißen, dann holt Sie der Teufel lotweise.
Das wird der Teufel nicht tun, Herr Müller.
Na, dann mal los. Schulze, nehmen Sie den Mann mit
in die Stoppkolonne und nicht so oft Fuffzehn
(ausruhen) gemacht, immer gleich richtig einschätzen
lernen.
Zehn Minuten später stand der ehemalige Schneider- und
Bäckergeselle, Zuschneider, Schneidermeister und
Fabrikarbeiter auf der Strecke Berlin-Hamburg mit einem
ca. sechs Pfund schweren Stopphammer mitten im Gleise und
stoppte im gleichmäßigen Vierertakt Steinschlag unter
die gelockerten Schwellen.
Es war gar nicht so schlimm, den Takt zu halten. Der
Rücken schmerzte allerdings nach zehn Minuten etwas, das
würde sich schon geben.
Etwa 20 Minuten mochten wir so in gebückter
Körperstellung gestoppt haben, - ich klopfte drauf los,
was die Kraft nur hergeben wollte als der
Kolonnenführer Fufzehn gebot. Meine
Arbeitskameraden stellten sich gerade und die
Stopphämmer in Ruhestellung auf die Schwellen, ich
kam nicht hoch, brachte auch die an der Stopphacke
festgekrampften Hände nicht los. Langsam ließ der
Krampf im Rücken und in den Händen nach. Da ertönte
bereits wieder das Kommando Weiter! Das war
bedeutend schwieriger als das erste Mal. Wieder wurde
eine ganze Schienenlänge durchgestoppt.
Fufzehn wurde wieder geboten, dieselben
Beschwerden wie vorher machten sich bemerkbar, nur etwas
schmerzhafter.
Bis zur Frühstückspause hatten wir etwa sechs mal
Fufzehn gemacht, jedes Mal hatten sich die
Beschwerden verstärkt. Zuletzt brachte ich den Rücken
schon nicht mehr gerade.
Frühstück, ertönte der Ruf des Rottenführers.
Zwei Stunden hatte ich erst gearbeitet schwer
gearbeitet, acht Stunden Arbeit standen noch bevor. An
der Bahnböschung ließ ich mich ins Gras fallen. Nur
ruhen, ruhen und nochmals ruhen. Gegessen habe ich nichts.
Die Pause war vorbei, der Körper hatte geruht.
Dreiundeinehalbe musste bis zur Mittagspause noch
geschafft werden.
Kurz vor Mittag kam der Einholer, mir musste
er eine Bockwurst mitbringen. N der Pause von einer
stunde streckte ich mich wieder an der Böschung lang und
richtete mich auch beim Essen nicht hoch.
Arbeitskamerad Willi legte sich neben mir nieder.
Dir sieht man an, dass Du noch nie schwer
gearbeitet hast. So wie Dir, geht es allen Anfängern.
Beim Stoppen darfst Du nicht so hoch ausholen und so mit
Nachdruck zuschlagen. Die Stopphacke brauchst Du nur zu
führen, sie drückt durch ihre Schwere den Steinschlag (Schotter)
unter die Schwelle. Der Schieber will Dich
bloß mürbe machen. Nachher stoppe ich neben Dir. Den
Hammer nur halb so hoch heben und dann ohne Druck fallen
lassen, den Takt hast Du ja raus. In einigen Tagen ist
Dir das Stoppen schon viel leichter. Für gewöhnlich
machen wir öfter Fufzehn, ein
Neuer wird immer erst
hochgenommen, Du darfst Dir da nichts
drausmachen.
Die Mittagspause war vorbei, mit Mühe konnte ich mich
auf allen Vieren hochrichten. Willi stellte
sich neben mich und machte mich auf ale Kniffe der
Arbeitserleichterung aufmerksam. Es ging bedeutend
leichter. Trotzdem, die Stopphacke hatte bis zum
Feierabend noch abertausende Schläge zu leisten.
Endlich und erlösend kam der Ruf. Genug für heute!
Wie gerädert kam ich zu Hause an. Ohne mich auszuziehen
warf ich mich auf das Bett, nicht fähig, mich erst zu
waschen und zu essen. Der innere Aufruhr und die
Schmerzen waren zu groß; nur ruhen wollte ich. Am
späten Abend brachte mir Muttchen eine Tasse
Fleischbrühe mit Ei verquirlt und einige belegte
Brötchen. Langsam entspann sich der Körper.
Schlafen konnte ich vor Muskelschmerzen nicht, und wenn
ich wirklich mal eindruselte, fingen die Arme
konvulsivisch zu stoppen an und erweckten mich.
Jedenfalls hatte ich Riese Goliath in den
Schatten gestellt.
Über eine Woche musste ich vollkommen überanstrengt,
vom Dienst kommend sofort zu Bett gehen, ohne erst zu
essen. Beim Auskleiden musste Muttchen helfen.
Erst nach Stunden war ich in der Lage, mein Abendessen im
Bett einzunehmen.
Körperlich kam ich nach und nach sehr herunter. Meine
liebe Frau glaubte mir schon den Rat erteilen u müssen,
mich nach anderer Arbeit umzusehen. Nicht, bevor
ich zusammenbreche, erwiderte ich meiner
sorgenvollen Frau.
Fünf Woche hatte ich schon ausgehalten, ich hatte die
Gewissheit: Nun halte ich durch.
Weitere Wochen vergingen, als unsere Kolonne den Auftrag
erhielt, Pflastersteine zu verladen. Für jeden Waggon
waren bestimmte Kräfte und Stunden vorgesehen, hatte
eine Kolonne schneller geladen, durfte sie Feierabend
machen. Das war die schwerste und anstrengendste Arbeit,
die ich je geleistet habe. Hinter den Arbeitskameraden
durfte ich nicht zurückbleiben, wollte ich mir nicht den
Vorwurf des Durchschleppenmüssens machen
lassen. Ich arbeitete ohne Rücksicht auf den
Kräfteverbrauch.
Drei Monate arbeitete ich bereits in der
Bahnmeisterei, als meine Kraft zu Ende ging.
Eines Sonnabends gegen Mittag, der Wagen war schon gut
geladen, überfiel mich eine bisher ungekannte Schwäche.
Arbeitskameraden führten mich zur Böschung und ließen
mich in das Gras nieder. Hoch kam ich nicht mehr, ich
wurde vom Schüttelfrost befallen. Der Rottenführer
wurde herbeigerufen.
Was machen Sie denn für Geschichten? sagte
er, nicht unfreundlich zu mir.
Das weiß ich auch nicht, Herr Müller, so etwas
ist mir noch nicht passiert. Nun ist es mit der
Lebensstellung aus, ich wollte nicht eher nachgeben, bis
ich zusammenbreche; es ist soweit, ich kann nicht mehr.
Lassen Sie mich erst etwas erholen, dann gehe ich nach
dem Büro und hole meine Papiere, so schwer mir das auch
wird.
Die Gedanken an eine erneute Arbeitslosigkeit und
damit verbundenen Zusammenbruch aller Hoffnungen machten
mich auch seelisch vollkommen fertig.
Machen Sie keine Faxen, Jetschke, ich habe
Sie schon lange beobachtet und ihre Ausdauer bewundert.
Sie bleiben hier, ich werde mich für Sie ins Zeug legen.
Solche Menschen kann die Eisenbahn gebrauchen. Beruhige
Sie sich erst einmal, hernach bringt Sie ein Kamerad nach
Hause. Bis Montag werden Sie schon wieder auf Posten sein,
dann stehen Sie auf der Strecke Sicherheitsposten, aber
warm anziehen! Sind Sie damit einverstanden?
Und ob ich damit einverstanden war!
Im Arbeiter-Aufenthaltsraum hatten Kameraden inzwischen
einen reichlichen steifen Grog gebraut.
Gierig trank ich darauf los, wickelte mich in einige
Decken und streckte mich auf der Tragbahre aus. Bald kam
ich in Schweiß und erholte mich nach und nach. So blieb
ich bis Feierabend liegen und begab mich mit einem in
meiner Nähe wohnenden Arbeitskollegen nach Hause.
Am nächsten Montag war ich wieder auf der Arbeitsstelle.
Ich wurde als Sicherheitsposten zu einer in den
Hauptgleisen Berlin-Hamburg arbeitenden Kolonne gestellt,
um diese durch Signalisierung der Züge vor dem
Überfahrenwerden zu schützen.
Diesen Dienst hatte ich etwa vierzehn Tage versehen, als
der Bahnmeister einen Revisionsgang unternahm. Er sah
mich und fragte: Was machen Sie denn hier?
Ohne mich von der Beobachtung der Strecke freizumachen,
antwortete ich: Ich bin als Sicherheitsposten
hergestellt, Herr Bahnmeister.
Davon weiß ich ja gar nichts, wer hat Sie denn
damit beauftragt? Der Rottenführer Müller,
Herr Bahnmeister.
Der Bahnmeister trat auf den Rottenführer zu, erhielt
von diesem Bericht über meine Erkrankung und meine
beabsichtigte Kündigung; auch sonst musste der
Rottenführer wohl günstig über mich berichtet haben.
Zu 12 Uhr mittags wurde ich nach dem Büro bestellt und
als Sicherheitsposten auf Handschlag verpflichtet.
Herr Jetschke, Sie sehen schlecht aus,
bemerkte der Dienstvorsteher, die Streckenarbeit
ist wohl doch schwerer als Sie das gedacht haben.
Jawohl, Herr Bahnmeister, ich hatte vorher noch
nicht so schwer gearbeitet.
Rottenführer Müller hat gut über Sie berichtet.
Ich habe mich entschlossen, Sie am 1. Januar bei
Inbetriebnahme des neuen Vorortbahnhofs als
Türschließer zu überweisen. Das ist gegenüber der
Streckenarbeit eine Erholung für Sie.
Vor vierzehn Tagen zu Tode betrübt, fühlte ich mich
heute wieder einmal als der glücklichste Mensch und
konnte den Feierabend nicht erwarten, um meiner
treusorgenden Berta die gute Nachricht zu überbringen.
Der Weg um Aufstieg war erkämpft, wenn auch unter
größten Anstrengungen.
Auf dem Nachhauseweg besorgte ich mir erst einen Strauß
roter Nelken für Muttchen und überbrachte
ihr mit diesem die freudige Nachricht vom glücklich
überstandenen Arbeitskampf.
Ehe ich diesen Abschnitt schließe, muss ich noch eine
gefährliche und doch glücklich verlaufene Episode aus
meiner Tätigkeit als Sicherheitsposten berichten.
An einem Morgen, es dämmerte noch, arbeitete die Kolonne
während des Berufsverkehrs an einer Stelle, an der sechs
Hauptgleise und ein Anschlussgleis nebeneinander liefen.
In etwa fünfzig Meter Abstand von der Kolonne waren an
beiden Enden vorschrifts- und odnungsmäßig
Sicherheitsposten aufgestellt. Der starke Verkehr brachte
es mit sich, dass fast zu gleichen Zeit auf sechs Gleisen
Züge vorbeifuhren, während auf dem Anschlussgleis
rangiert wurde. Auf dem Arbeitsgleis näherte sich ein
Eilzug aus Richtung Berlin. Rechtzeitig gab ich der
Arbeitskolonne das Signal zum Austreten aus den Gleisen.
Das Gerattere und Getöse auf den Nebengleisen und
starker Wind aus der Gegenrichtung verhinderte die
Beachtung des gegebenen Signals. Ich wiederholte dasselbe
mit aller Kraft, wieder ohne Erfolg. Kurz entschlossen
gab ich Notsignale, auch diese versagten. Die Kolonne
schien unrettbar verloren. Da warf ich, ganz und gar von
Sinnen, das Signalhorn weit von mir und brüllte wie
irrsinnig aus Leibeskräften. Dieser Verzweiflungsschrei
wurde gehört. Es gelang den Arbeitskameraden mit knapper
Not das Gleis flüchtend zu verlassen. Der Eilzug sauste
ohne das Geringste bemerkt zu haben, über die kritische
Stelle. Die Kolonne von acht Mann war gerettet. Außer
einigen beschädigten Geräten war kein Schaden
entstanden. Zufällig war ein zur Kolonne
zurückkehrender Kamerad n der Nähe und hatte meine
verzweifelten Bemühungen beobachtet. Der Vorgang hätte
sonst bei Eintritt einer Katastrophe auch für mich
katastrophale Folgen haben können.
Am 1. Januar 1908 stand
ich stolz, mit neuer Joppe und Dienstmütze bekleidet,
auf dem in Betrieb genommenen Vorortbahnsteig und
erwartete die Ankunft des ersten Zuges. Das Personal war
vom Dienststellenleiter entsprechend instruiert worden -
, die Räder konnten rollen.
|
Um 12.05 Uhr nachts hielt der erste Zug am Bahnsteig. Ein
einzelner Fahrgast in vollgesaugtem Sylvesterzustande
verließ den Zug aus der zweiten Klasse und versuchte,
den Bahnsteig in kurvenreichen Windungen zu verlassen.
Nach Abfertigung des Zuges folgte ich ihm, um
gegebenenfalls an der etwa 30 Stufen zählenden
Steintreppe behilflich zu sein Zuvorkommenheit und
Hilfsbereitschaft gehören zu den Pflichten der
Eisenbahner - .
Die Treppe war glücklich überwunden, da wurde unser
Eröffnungsfahrgast von schwerer
Seekrankheit befallen. Die sauber
gestrichenen Tragsäulen des etwa dreißig Meter langen
Tunnels schienen dem erkrankten Passagier
Segelmaste u sein. Er klammerte sich verzweifelt daran
fest und spendete dem Meeresgott die
fälligen Tribute. Mit Hilfe frischen Wassers
Wasser gehört nun einmal zur Seekrankheit brachte
ich ihn wieder zu sich.
Mit den Worten: Wenn das meine Mutti wüsste,
drückte mir der Eröffnungspassagier einen Taler in die
Hand. Bring mal die Sache wieder in
Ordnung, sagte er noch und verschwand, immer noch
unsicheren Schrittes.
Dieser Vorfall eröffnete ja die
verschiedenartigsten Perspektiven für die zukünftige
Tätigkeit.
Am Bahnsteig steht ein Zug zur Abfahrt bereit. Die
Fahrgäste sind eingestiegen, die Türen geschlossen; ich
erhebe die Hand mit dem für den Aufsichtsbeamten
bestimmte Zuruf Fertig! Der Aufsichtsbeamte
gibt mit dem Befehlsstab den Auftrag zur Abfahrt an den
Lokomotivführer. Da ertönt vom Treppenpodest der Zuruf:
Du dussliges Schwein brüllst fertig, Du kannst
wohl nicht warten bis die olle Frau eingestiegen ist?
Der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt. Eine ältere Frau,
die nachträglich die Treppe hoch kam, konnte ich von
meinem Standort nicht bemerken.
In Abweisung der ungehörigen Anrede riet ich dem Rüpel,
sich zu beherrschen, da er nicht in der Lage sei, meine
Dienstobliegenheiten zu beurteilen.
Quatsche nich so dämlich, Dir müsste man
gleich eene in die Fresse haun!
Noch immer ruhig, verbat ich mir diese Beleidigungen und
ersuchte den Renitenten, den Bahnsteig zu verlassen, da
ich ihn sonst dem Aufsichtsbeamten vorführen würde.
Du dämlicher Hund, hast doch noch keenen
vorgeführt, da könnste Deine Knochen gleich im
Taschentuch nach Hause schleppen!
Diese Beschimpfungen durfte ich angesichts des Publikums
nicht auf sich beruhen lassen, also machte ich von dem
mir zustehenden Recht Gebrauch.
Bitte verlassen Sie sofort den Bahnsteig, oder Sie
folgen mir zum Aufsichtsbeamten!
Das bestimmst Du Troddel doch nicht.
Ich fordere Sie auf, folgen Sie mir zum
Aufsichtsbeamten, oder ich führe Sie mit Gewalt vor!
Da bist Du viel zu feige zu.
Ich trete an den Vorzuführenden heran, fasse zu und
erhalte im gleichen Augenblick einen Schlag mit einem
stumpfen Gegenstand über den Kopf.
Das Blut strömt aus einer Kopfwunde über die Kleidung,
ich taumle, lasse den Angreifer jedoch nicht los.
Ein Kollege vom Nachbarbahnsteig sowie ein Reisender
kamen zu Hilfe. Wir hatten zu tun, den Ungebärdigen
gewaltsam vorzuführen.
Nach einem Notverband musste ich die Unfallstelle
aufsuchen, wo die Wunde vernäht wurde. Am Abend stellte
sich eine Gehirnerschütterung ein. Nach vierzehn Tagen
konnte ich meinen Dienst wieder versehen.
Ein Forstbeamter hatte den Vorfall beobachtet und mein
äußerst korrektes Verhalten zu Protokoll gegeben. Der
schon vorbestrafte Täter musste seine unüberlegte
Handlung mit sechs Wochen Gefängnis büßen.....
n einem Sonntag besteigt ein stets freundlicher
Stammfahrgast in Jägerkleidung den Zug und ruft mir
ermunternd zu: Na, Herr Eisenbahnminister, möchten
Sie heute nicht lieber zur Treibjagd mitkommen?
Mögen möchte ich schon, Herr Doktor, da hätten
die Hasen von mir aus auch mal einen Sonntag, nur bin ich
sehr empfindlich und gegen etwaige Kunstschüsse nicht
gefeit. Waidmannsheil, Herr Doktor:
Waidmannsdank!
Am Abend kommt der Doktor ein Junggeselle
in bester Jägerstimmung zurück, drei Hasen als
Siegestrophäe an seiner Seite.
Die möchten Sie wohl haben?
Unter keinen Umständen, Herr Doktor, höchstens
den kleinen, falls er auf mein Waidmannsheil von heute
früh gebucht werden müsste.
Das war alles scherzhaft gesagt und aufgenommen worden.
Der Zug war abgefertigt, ich drehe mich nach dem sich
entfernenden Fahrgast um, da sehe ich einen Hasen auf dem
Bahnsteig liegen. Den Hasen aufheben und dem Reisenden
nachrennen war eins.
Herr Doktor, rufe ich ihm zu und halte ihm
die Jagdtrophäe entgegen. Der Hase scheint noch
nicht ganz tot zu sein, er treibt hier auf dem Bahnhof
seine Kapriolen.
Der Doktor lacht und sagt: Der kommt auf Ihr
Waidmannsheil, schlagen Sie in noch töter und schenken
Sie ihn Muttern für die Bratpfanne.
Das war ein gefundenes Fressen. Daheim war
die Freude groß. Künftig brauchte der Doktor beim
Einsteigen keine Tür mehr zu öffnen und zu schließen,
sofern ich ihn vom Weiten bemerkte. Leider musste ich ihm
bald nachtrauern; eine Versetzung hatte ihn meinem
Interessenkreis entzogen.
So brachte der neue Dienstposten angenehme wie
unangenehme Ereignisse in bunter Reihenfolge. Einen
Vergleich gegenüber den für mich ungleich schwereren
Streckendienst konnte der Dienst als Türschließer
selbstverständlich nicht standhalten.
In eigenem Interesse hatte ich jede freie Stunde benutzt,
um mich zu vervollkommnen. Den Telegraphendienst
beherrschte ich schon nach eigenen Wochen. Im Nachtdienst
war ich ganz allein auf dem Bahnsteig, das benutzte ich
zur Auffrischung der in der Schule vernachlässigten und
jetzt dringend erforderlichen geographischen Kenntnisse.
Auch meiner Schwäche für Dichtkunst konnte ich
ungestört frönen und mich dadurch in Deutsch
vervollkommnen.
Eines Nachts ich versuchte gerade die Eisenbahn in
Poesie und Prosa in Versform zu fassen macht der
Dienstvorsteher eine Nachtrevision:
Was treiben Sie denn da?
Ich frische meine Schulkenntnisse auf und versuche
mich in der Dichtkunst.
Besser wären die Dienstvorschriften und der
Telegraphenapparat, damit Sie den Aufsichtsbeamten
unterstützen können. Sie wollen doch vorwärts kommen?
Jawohl, Herr Vorsteher, Telegraphenvorschriften und
Morseapparat glaube ich genügend zu beherrschen, den
Dienst darf ich ohne Prüfung nicht wahrnehmen.
Wann haben Sie denn das gelernt?
In den Nachtpausen, Herr Vorsteher.
Na, da zeigen Sie mal Ihre Kunst.
Ich arbeitete frisch drauf los und bekam ein Lob.
Sie arbeiten ja wie ein alter Telegraphist. Machen
Sie mal so weiter.
Welcher Art ist denn Ihre Dichtkunst?
Ich versuche mich in humoristischem Fatalismus.
Donnerwetter, Mann, wo haben Sie denn als Türschließer
diese Ausdrucksweise her, Sie lesen wohl sehr viel?
Gute Bücher ja, in der Schule bekam ich oft Tadel,
meine Aufsätze nicht selbst gefertigt zu haben, aber
stets zu unrecht.
Zeigen Sie doch mal Ihr dichterisches Vergehen!
Ich las dem Vorsteher einige Verse vor:
Die
Eisenbahn
An den Schaltern drängen Mengen,
die hinaus aus Großstadtengen
in das Freie sich ergießen,
Um den Frühling zu genießen.
Väter, Mütter, Kinder, Tanten,
und die sonstigen Verwandten,
Jugend in wohl x-Vereinen,
alles ist heut auf den Beinen.
Ja, ein schöner Sonntagmorgen
Macht vergessen alle Sorgen.
Und so eilt im Frühlingswahn
alles hin zur Eisenbahn.
Auf dem Weg zur Bahnsteigsperre
Gibts ein Hin- und Hergezerre,
Vater, hast Du unsere Karten?
Hier der Schaffner lässt uns warten.
Hörn Sie, das sind meine
Beine,
wem gehört denn hier die Kleine?
Kinder, sputet Euch doch bloß,
unser Zug fährt ja gleich los!
Endlich kommen alle Mann
Quietschvergnügt am Bahnsteig an.
Lautes Drängen und Gebaren,
denn der Zug kommt angefahren.
Wilde Gesten, tolles Schieben.
Wo ist Lotte bloß geblieben?
Die inzwischen sitzt famos
Ihrem Fritzchen auf dem Schoß.
Alte Schimpfen, junge kichern,
durchgewirbelt wie bei Blüchern,
prustend fährt das Zügle an,
schön ists auf der Eisenbahn.
|
Ein weiteres Dutzend Verse
sind noch im Entstehen, Herr Vorsteher.
Sie sind ja ein Allerweltskerl. Wenn Sie das fertig
haben, geben Sie mir eine Abschrift. Nun will ich Ihnen
mal etwas raten, reichen Sie ein Gesuch um Ausbildung zum
Eisenbahngehilfen ein, Sie haben das Zeug dazu, ich werde
es befürworten.
Ich war wieder allein -, wollte es denn gar nicht
Feierabend oder viel mehr morgen werden? Ich musste
doch meinem Bertchen diese guten Nachrichten überbringen.
Endlich war es so weit, mein Bertchen freute sich
mit mir. Wie hatte es noch vor zwei Jahren ausgesehen?!
Schon seit zwei Jahren versah ich meinen Dienst als
Telegraphist auf einem großen Berliner Bahnhof.
Der Weltkrieg 1914/18 war ausgebrochen. Millionen
Gefallene und Verwundete hatten die Schlachten gefordert.
Abermillionen Hinterbliebenen war das Herz gebrochen. Mir
selbst hatte dieser Krieg so vieles zum Denken gegeben.
Hatte ich schon in den für mich schweren Zeiten die
Existenz eines Gottes, wie er uns in der
Schule geschildert war, abgestritten; der Krieg bewies es:
Einen Allmächtigen Gott gibt es nicht! Er
hätte nie geduldet, dass seine Werke von Menschenhänden
in solch frivoler Art vernichtet wurden. Alle
kriegführenden Nationen beteten zu dem einen Gott:
Vernichte unsere Feinde und schenke uns den Sieg.
Welchen Völkern sollte da ein Gott wohl helfen? Nach dem
religiösem Glauben sind doch alle Menschen seine Kinder.
Wenn die gläubigen Christen den Ausgang des Krieges 1939/45
als gottgewollt anerkennen, dann müssen sie auch das
Deutsche Volk als das schuldige Volk betrachten; darüber
kann es auch keinen Zweifel geben.
Dann sind auch die Kriegsverbrecher noch viel zu gut
weggekommen. Zehnfach haben diejenigen den qualvollsten
Tod verdient, die in deutschen Konzentrationslagern
hunderttausende von einsichtigen Volksgenossen
erbarmungslos hinmordeten, die sogar eine nach Millionen
zählende Religionssekte mit Frauen und Kindern
bestialisch hingemordet hätten, wenn der Ausgang des
Krieges anders gekommen wäre.
Ungezählte jüdische Gläubige sind trotzdem diesen
Massenmördern um Opfer gefallen.
Nun soll der Herrgott gar diese
Kriegsverbrecher als Geißeln für den Unglauben
geschickt haben.
Diese Gedanken haben mich Jahr und Tag beschäftigt; Gott
ist die Natur. Die Natur ist mysteriös und daher den
unwissenden Menschen heilig, und diese Heiligkeit wollen
wir gerne anerkennen, denn sie bietet vielen Menschen
einen festen Halt.
Ende des Weltkrieges 1914/18 erfüllte sich endlich men
Lebenstraum. Nach elfjährigem Eisenbahndienst hatte ich
mir, angefangen vom Streckenarbeiter, eine bescheidene
Beamtenstellung mit Pensionsberechtigung erkämpft. Weit
hinter uns lagen die Begebenheiten mit Schlamperts, das
Erleben des eigenen Niederganges, der Reisekorb-Schlittenumzug
und alle bösen Erinnerungen. Neues Erleben ernster und
heiterer Art rollten im Kampfe ums Dasein an mir vorüber.
Als Bahnhofsvorsteher so werden die
Aufsichtsbeamten noch heute in Unkenntnis bezeichnet
stand ich im bescheidenen aber berechtigten Stolz
noch lange Jahre auf einem der bekanntesten Berliner
Fernbahnhöfe (Lehrter Bahnhof) mit internationalem
Verkehr.
|
Es war beileibe kein Dummstolz, hatte ich mir doch diese
Stellung, wie die leiben Leser ja bereits wissen, im
schweren Ringen um das Dasein mit Schippe und Stopphacke
erkämpft und auch verdient.
Kein sogenannter guter Onkel, kein zwölfjähriges
Soldatsein hatten mir den schweren Weg dazu gebahnt.
Daheim hatte sich mit meinem Emporsteigen auf der
dienstlichen Stufenleiter auch so manches geändert.
Mein Gehalt hatte sich nach und nach nicht
unwesentlich erhöht. Höhere Einkommen bedingen höhere
Ansprüche und damit auch höhere Ausgaben.
Um letztere durchführen zu können, hatten
wir uns in unserem Glücksempfinden, nach einer
vierzehnjährigen Pause, eine kleine Elfriede angeschafft.
Bitte nicht lächeln, liebe Leser, es war wirklich nur
aus diesem Grunde passiert. Der Älteste, nunmehr schon
17 Jahre alt, hatte die Reifeprüfung hinter sich und
bereitete sich auf den Bücherrevisor vor und Lottchen
erlernte die Hauswirtschaft.
Als eine selbstverständliche
Glückssache betrachteten wir es, dass wir eine
sehr geräumige 2 ½ Zimmer-Neubauwohnung mit dem so
längst ersehnten Bad und sonstigen Bequemlichkeiten
beziehen konnten.
Meinem ausdauernden Fleiß durfte ich also auch den
wirtschaftlichen Aufschwung zuschreiben...
Diesem Buche habe ich die meisten meiner bisherigen mehr
oder weniger heiteren Erlebnisse anvertraut, ich möchte
noch einige Begebenheiten aus meiner Dienstzeit als
rotbemützter Aufsichtsbeamter hinzufügen, soweit keine
Hinderungsgründe vorliegen.
Der Abendschnellzug nach Hamburg steht am Bahnsteig. Ich
habe mich von der ordnungsmäßigen Beschaffenheit des
Zuges überzeugt, Meldungen des Zugpersonals entgegen
genommen und bin mit Auskunfterteilung beschäftigt. Ein
sehr adrettes etwa achtzehnjähriges Mädelchen
fast Dame wird mir vom Schaffner vorgeführt.
"Herr Vorsteher, die Dame möchte Sie
persönlich sprechen.
Bitte, Fräulein, welches Anliegen haben Sie?
Herr Vorsteher, kann ich Sie nicht einmal unter
vier Augen sprechen? Mir ist etwas unglaubliches passiert,
hier vor allen Reisenden könnte ich mich Ihnen nicht
anvertrauen.
Bitte stellen Sie sich einen Augenblick zur Seite,
ich bin sofort zurück.
Einige dringende Dienstverrichtungen waren bald erledigt.
So, Fräulein, nun kommen Sie bitte mit nach
dem Dienstraum.
Ich biete dem Mädelchen einen Stuhl an, bitte,
Fräulein, was haben Se auf dem Herzen?
Verlegen und stockend erzählt sie: Ich bin von der
Tante geflüchtet und muss unbedingt nach Hamburg zu den
Eltern zurück. Leider habe ich nicht das erforderliche
Geld. Können Sie mir nicht irgendwie helfen? Mit einem
guten Rat ist mir nicht gedient.
Wertes Fräulein, wer reisen will, muss schon das
Geld dazu aufbringen, ich kann Ihnen leider nicht helfen,
konnten Sie sich das Geld nicht von der Tante ausbitten?
Herrgott, muss ich denn erst das Häßliche sagen,
damit Sie mir helfen?
Fräulein, in diesem Falle kann ich überhaupt
nicht helfen, ohne Fahrgeld können Sie keine Reise
antreten.
Das kleine Fräulein wird über das ganze Gesicht
rot und beichtet mir den die Flucht veranlassenden
Vorgang.
Ich pflege fast ein ganzes Jahr meine kranke Tante.
Nun hat mich die Tante in krankhafter Aufregung ohne jede
Veranlassung ins Gesicht geschlagen, mir die Haare
gezaust und mich schwer beleidigt, warum, kann ich
unmöglich sagen. Unmöglich ist es mir aber auch, zur
Tante zurückzukehren, sie hat mir die Tür gewiesen.
Bitte rufen Sie doch meinen Vater, Pfarrer X in Hamburg
an, wir sind auf dem Hamburger Vorortbahnhof Y sehr
bekannt, hier in Berlin bin sonst vollkommen fremd und
wüsste nicht, wo ich unterkommen könnte.
Dem Aufsichtsbeamten sind Vorschriften und Paragraphen
gegeben, die er zu beachten hat, an die er jedoch nicht
starr gebunden ist. In unvorhergesehenen Fällen hat er
nach verständigem Ermessen zu handeln.
Schon während der Erzählung hatte ich eine Verbindung
mit dem Kollegen des Hamburger Vorortbahnhofes herstellen
lassen. Die Angaben meiner ganz aufgelösten
Bittstellerin trafen zu, der Hamburger Aufsichtsbeamte
verbürgte sich für die ordnungsmäßige Ausstellung
einer Nachlösekarte Berlin-Hamburg.
Beruhigt übergab ich dem Zugführer des Hamburger
Schnellzuges die mittellose Reisende mit dem
schriftlichen Auftrage, diese ohne Fahrkarte bis Hamburg
mitzunehmen und dem dortigen Aufsichtsbeamten zwecks
Nachlösung vorzuführen. Der Auftrag erhielt noch den
Zusatz Bahnhof Hamburg und Eltern der Reisenden
sind telefonisch verständigt.
Noch am gleichen Abend berichtete mir der Hamburger
Kollege die ordnungsmäßige Erledigung der Angelegenheit.
Vierzehn Tage später erhielt ich einen in gutem Stil und
kalligraphischer Schrift gehaltenen Brief der von der
Tante Geflüchteten mit den herzlichsten Dankesworten.
Die Eltern schlossen sich mit Dank und Anerkennung an.
Mir bleibt dieser Vorgang eine liebe Erinnerung an meine
Dienstzeit.
Es ist zwei Uhr nachts. Der letzte Zug ist eingelaufen,
der Personenverkehr ruht. Die Außenbeleuchtung ist
ausgeschaltet, scheinbar tiefe Stille im ganzen Betrieb.
Ich sitze allein im Telegraphenzimmer. Einundzwanzig
Morseapparate und eine Telefonzentrale mit 85
Anschlüssen sind zu überwachen.
Hier und dort klappern Rufzeichen näher oder entfernter
liegender Stationen, ab und zu werden telefonische
Verbindungen auf der Zentrale verlangt. Größte
Aufmerksamkeit gehört dazu, zwischen all den
Rufzeichen der Morseapparate und Gruppenfernsprecher den
eigenen Ruf nicht zu überhören. Von Ruhe ist nichts zu
spüren, kann man doch Telegraphenzimmer und
Telefonzentrale mit dem Nervenzentrum eines Menschen
vergleichen, das allen Willen vermittelt und in die Tat
umsetzen hilft. Die Betriebsruhe ist eben nur eine
scheinbare.
Da werden nachts Bahnsteige, Warteräume und Züge
gereinigt. In den Fahrkartenausgaben werden
Teilabrechnungen vorgenommen. Der Aufsichtsbeamte
erledigt seine schriftlichen Arbeiten, soweit ihm das
bisher nicht möglich war und versieht die
vorgeschriebenen Kontrollgänge.
Auf dem Außenbahnhofe sind Rangierabteilungen die ganze
Nacht damit beschäftigt, Wagen aus ankommenden
Güterzügen am Güterboden und auf Anschlussgleisen zur
Entladung abzustellen und beladene Güterwagen in
abfahrende Züge einzurangieren. Zu diesen Arbeiten ist
die Mithilfe der unter Führung eines Fahrdienstleiters
zusammengefassten Rangierstellwerke erforderlich.
Gestellung und Versorgung von Rangier- und Zugmaschinen
passen sich dem nächtlichen Getriebe an.
Das alles gehört zum Ablauf des ungefähren nächtlichen
Normalbetriebes, von dem die Allgemeinheit wenig hört
und sieht....
Vor mir steht eine Kanne frischgebrühtem Kaffee,
um die ermattenden Lebensgeister aufzurütteln. Wohlig
schlürfe ich das Labsal herab, da rasselt der Wecker
eines Gruppenfernsprechers aufdringlich und scharf.
Hier ist das Telegraphenbüro Hauptbahnhof,
Jetschke.
Hier Stellwerk 1, Schmidt. Rangierer Schlegel ist
hier 2 Uhr 30 zu Fall gekommen und anscheinend nicht
unerheblich verletzt. Der Verletzte wird auf der Bahre
nach dort zwecks Anlegung eines Notverbandes gebracht.
Öffnen Sie den Rettungskasten und legen Sie sich alles
zurecht, veranlassen Sie gegebenenfalls auch den
Abtransport nach dem Krankenhaus oder in die Wohnung des
Schlegel.
Verstanden Jetschke: Rangierer Schlegel, nicht
unerheblich verletzt, wird nach hier zur Anlegung eines
Notverbandes gebracht. Alle Maßnahmen werden von hier
aus sofort ergriffen.!
Richtig verstanden, Schmidt, Schluß.
Ruhiges Überlegen und schnelles Handeln ist in solchen
Fällen Grundbedingung jedes Eisenbahnsanitäters und ihm
von Anbeginn seiner Laufbahn anerzogen. Also,
Rettungskasten geöffnet, Verbandszeug zurechtgelegt,
Aufsichtsbeamter verständigt. Schon wird der Verletzte
hereingetragen. Blaß und mit schmerzverzerrtem Gesicht
lässt er alles über sich ergehen. Er ist unglücklich
und dabei doch noch glücklich unter einen in Fahrt
befindlichen Wagen gekommen. Vorsichtig wird der Schuh
vom verletzten Bein gezogen, die Kleidung in den Nähten
mit der Kleiderschere aufgetrennt, die Wunde freigelegt.
Keine Knochenbrüche, wohl aber eine schwere
Wadenquetschung mit ersichtlicher Zerreißung der
Muskulatur. Der Notverband ist schnell und sicher
angelegt. Ein Auto steht schon vor der Tür, um den
Verwundeten in das nahe, bereits verständigte
Krankenhaus zu überführen.
Innerhalb zwanzig Minuten seit Eintritt des Unfalles war
ein kunstgerechter Notverband angelegt, nach dreißig
Minuten befand sich der Kamerad schon in ärztlicher
Krankenhausbehandlung. Das Schwerste stand noch bevor,
die Benachrichtigung der Angehörigen, das wurde auf dem
Nachhauseweg mit erledigt.
Inzwischen wollte es die Duplizität der Ereignisse,
dass der nächstgelegene Vorortbahnsteig eine Meldung
über die Ankunft einer erkrankten Frau in dem ersten, um
5 Uhr früh eintreffenden Vorortzug mitteilte und um die
Bereithaltung der Tragbahre ersuchte. Nach Eintreffen des
Vorortzuges konnten wir zu unserer Beruhigung feststellen:
Die Erkrankte war sehr gesund und hatte einem neuen
Erdenbürger den Eintritt in das Leben ermöglicht.
Auch hier erfolgte, auf Wunsch der Mutter, die sofortige
Überführung in ein Krankenhaus.
Der verunglückte Kamerad Schlegel verließ nach
zehn Wochen das Krankenhaus, den Dienst als Rangierer
konnte er nicht mehr versehen, dafür sitzt er heute als
Bahnhofsschaffner in gesicherter Lebensstellung.
Mit den Eltern des geborenen Eisenbahners
stand ich noch lange Zeit in Verbindung, er ist
inzwischen mit seiner Geburtsstätte eng verbunden und
versieht Dienst in einer Fahrkartenausgabe.......
Reger Berufsverkehr belebt den Bahnhof. Zubringerzüge
überführen im Zwei- und Dreiminutenverkehr tausende und
abertausende werktätiger Menschen aus dicht bevölkerten
Wohnvierteln in die großen Berliner Industriezentren.
Auf den Bahnsteigen ein fast unübersichtliches
Durcheinander und Gedränge. Es bedarf größter Umsicht
und Entschlossenheit aller Bediensteten, damit der
Verkehr reibungslos durchgeführt werden kann.
Leichtsinn und Unsitte, die schon manchen schweren Unfall
mit tödlichem Ausgange herbeiführten, müssen
unterbunden werden. Zu der verbreitetsten und
gefährlichsten Unsitte gehört das Aufreißen der
Wagentüren während der Fahrt. Wie oft sind dicht an der
Bahnsteigkante stehende Menschen von vorzeitig
geöffneten Türen einfahrender Züge verletzt oder gar
getötet worden. Trotzdem finden sich immer Menschen, die
die warnenden Zurufe der Bediensteten nicht nur nicht
beachten, sondern sich noch obendrein grobe
Ungehörigkeiten zu Schulden kommen lassen, wie aus
folgendem ersichtlich ist:
Ein stark besetzter Vorortzug fährt an den voll Menschen
stehenden Bahnsteig ein; ich habe Aufsichtsdienst. Türen
werden schon lange vor dem Halten des Zuges aufgerissen.
Füße sprungbereit auf die Trittbretter gestellt, um
durch schnelles Umsteigen im Anschlusszug einen Sitzplatz
zu erhalten.
Warnend fordere ich durch Zuruf zum Zurücktreten in das
Abteil und Schließen der Wagentüren auf. Die
Einsichtigen unter den Fahrgästen kommen der
Aufforderung sofort nach. Ein an mir vorbeifahrender
großer, robuster Reisender in hellem Anzug, eine
gefüllte Fünfliterflasche in einer Hand, in der anderen
die geöffnete Tür, sieht mich hohnlächelnd an
nun erst recht! und steigt noch während der
Fahrt auf das Trittbrett, mich ob meines Warnrufes mit
höhnischen Blicken musternd. Da ist das Unglück aber
auch schon geschehen, eine junge Frau ist, von der Tür
erfasst, umgestoßen worden und unter den Zug gekommen.
Ein beherzter Fahrgast hat sofort die Notbremse gezogen,
ruckartig steht der Zug.
Der Übeltäter versucht zu fliehen. An der
Bahnsteigtreppe trete ich ihm entgegen. Meiner
Aufforderung, mir zum Dienstraum zu folgen, kommt er
nicht nach. In zu später Einsicht seiner strafbaren
Handlung glaubt er, im Gedränge entkommen zu können.
Die Angst vor dem u erwartenden Schwierigkeiten lässt
ihn unüberlegt etwas Unverzeihliches tun.
Ich vertrete ihm den Treppenabgang, da bekomme ich
plötzlich einen Stoß vor die Brust und stürze
rücklings die Steintreppe herunter. Im
Hintenüberschlagen fasse ich, blitzartig Halt suchend,
den Renitenten mit beiden Händen an der Brust und reiße
ihn durch mein in Sturz befindliches Körpergewicht im
Salto mortale über mich hinweg. Auf dem Treppenabsatz
zersplittert die Fünfliterflasche, der Flüchtige
kollert sich mit seinem hellen Anzug in einer
Glyzerinlache und versucht, vollkommen kopflos,
weiterzufliehen. Ich vermag ihn zu halten bis einige
Bedienstete mir zur Hilfe kommen; mit Gewalt muß er zum
Dienstraum gebracht werden.
Inzwischen haben weitere Bedienstete, die unter dem Zug
liegende Bewusstlose hervorgezogen und auf einer
Tragbahre nach dem Verbandsraum befördert. Mit dem Kopfe
lag sie, nur wenige Zentimeter entfernt, auf der Schiene.
Außer einer klaffenden, stark blutenden Kopfwunde, die
schnell verbunden wird, lässt sich vorläufig nichts
feststellen. Ein schnell herbeigerufener Polizeimeister
führt den am Unfall Schuldigen zwecks Feststellung der
Personalien ab.
Die Verunglückte st wieder zur Besinnung gelangt und
begibt sich nach einer protokollarischen Vernehmung mit
Hilfe einer zurückgebliebenen Arbeitskameradin in
ärztliche Behandlung. Sie hatte Glück im Unglück und
konnte bereits nach 8 Tagen die Arbeit wieder aufnehmen.
Der Berufsverkehr ist vorüber, ich bin mit der Abfassung
des Berichtes über den durch unglaubliche
Leichtfertigkeit eines Reisenden herbeigeführten Unfalls
beschäftigt, da klopft es bescheiden an die Tür. Auf
mein Herein tritt der am Unfall schuldige
Reisende ein. Blassgelb, in sich zusammengesunken, kaum
wieder zu erkennen. Verschwunden ist das selbstsichere
Auftreten, sein höhnischer Blick.
Er spricht nichts, wartet, bis ich ihn anrede:
Was wünschen Sie noch? Ich bedarf Ihrer nicht mehr,
die Personalien bekomme ich vom Polizeirevier.
Herr Vorsteher, ich wollte Sie nur bitten, machen
Sie mich nicht unglücklich, ich sehe ja ein, was ich mit
meinem Verhalten verschuldet habe.
Na, dann werden Sie wohl auch einsehen, dass ich
nicht Sie, sondern Sie sich selbst ins Unglück gestürzt
haben und dafür auch büßen müssen.
Ja doch, Herr Vorsteher, es kam alles so schnell.
Dutzende Male bin ich während der Fahrt abgesprungen,
man hats doch immer eilig, nie ist etwas passiert
und heute musste es so kommen, lebt den die Frau noch?
Also Sie haben schon dutzende Male die
Sicherheitsvorschriften außer Acht gelassen und die
Mitreisenden leichtsinnigerweise in höchste Gefahr
bebracht? Über den Zustand der Verletzten bin ich vom
Arzt noch nicht unterrichtet. Für Sie sieht die Sache
jedenfalls recht böse aus.
So schlimm wird es doch nicht sein. Ich habe
vier Kinder und werde meine gute Stellung los, wenn das
Werk etwas erfährt. Herr Vorsteher, können Sie denn
nichts für mich tun; ich will ja für alles aufkommen.
Hören Sie mal, Verehrtester, schämen Sie
sich gar nicht Ihres hässlichen Benehmens? Erst
quittieren Sie meinen Warnruf mit höhnischen Blicken,
dann handeln Sie meiner Warnung bewusst entgegen und
reißen eine Frau unter den Zug, weiterhin greifen Sie
mich in Ausübung meiner Polizeigewalt persönlich an und
stürzen mich die Steintreppe hinunter, zuletzt versuchen
Sie sich der Verantwortung durch die Flucht zu entziehen.
Jetzt winseln Sie wie ein feiger Junge. Haben Sie sich
denn gefragt, was aus der Verunglückten, mir und unseren
Kindern geworden wäre, falls wir das Genick gebrochen
hätten? Da wollten Sie sich der Verantwortung feige
durch die Flucht entziehen. Nun zeigen Sie sich
wenigstens jetzt als Mann.
Lassen Sie die Angelegenheit an sich herankommen und
nehmen Sie die Verantwortung auf sich.
Herr Vorsteher, was habe ich da bloß alles zu
gegenwärtigen?
Das kann ich Ihnen ungefähr verraten. Sie haben
sich wegen Bahnpolizeiübertretung, Transportgefährdung,
schwerer Körperverletzung, Beamtenbeleidigung,
Widerstand gegen die Staatsgewalt, Fluchtversuch und was
der Staatsanwalt sonst noch herausfinden mag, zu
verantworten, außerdem haben Sie alle gerichtlichen,
sowie außergerichtlichen Kosten und etwaige
Entschädigungen zu bezahlen und das alles wegen Ihrer
bodenlosen Rücksichtslosigkeit gegen Ihre Mitmenschen.
Mit der Beherrschung des Übeltäters ist es vorbei.
Kopfschüttelnd sitzt er in zusammengesunkener Haltung
vor mir. Weinerlich jammert er: Herr Vorsteher, ich
habe mir noch nie etwas zu schulden kommen lassen, bin
vollkommen unbestraft und soll nun gleich so
reinschlittern? Helfen Sie mir doch aus der bösen Sache
raus. Mich muss ja der Teufel geritten haben, dass ich
mich gegen Sie ur Wehr setzte. Verzeihen Sie mir bitte,
ich war vor Aufregung ganz von Sinnen. Ich will alles
wieder gut machen, es ist eine furchtbare Lehre für mich.
Wenn Sie auch in mir einen feigen Menschen sehen, ich
bitte für meine Familie. Raten Sie mir doch wenigstens,
wie ich die Folgen meiner Handlung mildern kann.
Die größte Reue lässt Geschehenes nicht
ungeschehen machen. Verdient haben Sie keine
Rücksichtnahme; Sie sind selbst ein ganz
rücksichtsloser Mensch. Trotzdem will ich Ihnen mit
Rücksicht auf Ihre Familie folgendes erklären:
Die Anzeige wegen Bahnpolizeiübertretung kann ich mit
Rücksicht auf die schweren Folgen nicht zurückhalten,
vielleicht kann ich Ihr reumütiges Verhalten als
strafmildernd anführen. Ich gebe Ihnen die Adresse der
Verletzten. Setzen Sie sich mit der Frau in Verbindung,
bieten Sie ihr den Ersatz des Lohnausfalles und aller
Unkosten an. Nach einigen Tagen begeben Sie sich zum
entsprechenden Dezernenten der Reichsbahn und bitten dort
um gut Wetter. Was weiter geschieht, müssen Sie
abwarten. Meinerseits werde ich vorläufig von einer
Anzeige wegen tätlicher Beleidigung und Widerstandes
Abstand nehmen, falls die Verwaltung ihrerseits nicht
darauf bestehen sollte. Dass Sie durch Ihr Verhalten
alles andere als diese Behandlung verdient haben, wird
Ihnen einleuchten. Beobachte ich Sie noch einmal beim
vorzeitigen Aussteigen, dann gibt es keine Rücksicht
mehr.
Sie können gehen.
Der Reisende bedankt sich überschwänglich. Die Hand,
die er mir beim Verlassen des Dienstraumes reichen will,
übersehe ich geflissentlich.
Mit einer Bahnpolizeistrafe von zwanzig Mark, einer
Entschädigung für die Verletzte und einer freiwillige
Buße für Eisenbahnerwaisen ist der Schuldige im
außergerichtlichen Verfahren sehr gnädig weggekommen.
Für einige Zeit war der Vorfall fühlbar belehrend auf
die Fahrgäste eingewirkt....
Ehe ich meine Erlebnisse, insbesondere die auf der
Eisenbahn, abschließe ich könnte davon allein
ein ganzes Buch füllen möchte ich doch das
tragischste aller Erlebnisse während meiner 35
Dienstjahre nicht unerwähnt lassen. Es soll den Lesern
die große Verantwortung jedes einzelnen Bediensteten und
die bösen Folgen von Unaufmerksamkeit und Ablenkung vor
Augen führen. Zur besseren Verständigung muß ich etwas
zurückgreifen.
Den für die Sicherheit des Betriebes auf einem Bahnhof
verantwortungsvollsten Posten hat was die
Anordnungen zur mittelbaren Ausführung betrifft
der Fahrdienstleiter.
Es ist dies ein Bediensteter, der durch jahrelange
Erfahrungen und praktische Prüfungen seine Befähigung
für diesen Dienstzweig einwandfrei nachgewiesen hat. Er
erteilt seine Anordnungen von einem Stellwerk aus. Auf
größeren Bahnhöfen sind mehrere Stellwerke vorhanden,
die jedoch unter der Befehlsgewalt des Fahrdienstleiters
auf de Befehlsstellwerk zusammengefasst sind.
Nach einem solchen Befehlsstellwerk wurde ich eines Tages
zur Information als Fahrdienstleiter abgeordnet.
Wenn ich Telegraphenbüro und Telefonzentrale als
das Nervenzentrum eines Bahnhofes bezeichnete, so muß
das Befehlsstellwerk als dessen Gehirn angesprochen
werden.
Ich betrat dieses Befehlsstellwerk in einer frühen
Morgenstunde des Berufsverkehrs. Ein Fahrdienstleiter,
zwei Stellwerksmeister und ein Zugmelder bilden die
dauernde Besatzung. Über einhundert Weichen-, Sicherungs-
und Signalhebel, zwei Telegraphen- und acht
Telefonapparate mussten überwacht und bedient werden, um
den Betrieb pünktlich und ordnungsmäßig durchführen
zu können. Sicherungswerkmeister befanden sich in der
Nähe, um im Bedarfsfalle sofort beispringen zu könne....
Sekretär Jetschke zur Information als
Fahrdienstleiter kommandiert, meldete ich mich beim
Fahrdienstleiter, einem bewährten Obersekretär. Ein
Wink nach einem in der Ecke stehenden Stuhl war die ganze
Antwort. Die Berechtigung dieser stummen Antwort konnte
ich nach kurzer Beobachtung, soweit eine solche von
meinem Platze aus möglich war, wohl verstehen.
Aufmerksam verfolgte ich alle Anordnungen und deren
Ausführung.
Um das Stellwerk bis weit auf die Strecke hinaus, zog
sich ein Labyrinth von Gleisen, Weichen, Signalen und
Sicherungseinrichtungen.
Dem Laien musste es unfassbar erscheinen, mit welcher
Präzision und Schnelligkeit die Befehle des
Fahrdienstleiters in die Tat umgesetzt wurden, wie ein
scheinbar unentwirrbares Durcheinander entstand und sich
doch alles auftragsgemäß glatt abwickelte.
Ein- Ausfahrten von Schnell-, Personen- und Vorortzügen,
dazwischen Rangier-, Maschinen- und Kreuzungsfahrten
über die Hauptgleise hinweg. Ein- und Aussetzen von
Zügen und Maschinen, das alles wirkte fast
sinnverwirrend auf den Beobachter. Das war kein
schematisches Arbeiten. Jede Anordnung des
Fahrdienstleiters, jeder Handgriff der Stellwerkmeister,
jede Meldung des Zugmelders erforderten genaue
anstrengende Gehirnarbeit. Hier ging es nicht um Minuten,
hier ging es um Sekunden, sollte alles planmäßig
verlaufen; und trotzdem arbeiteten alle Kameraden ruhig,
überlegt und sicher.
Ich war überwältigt von diesen nervenanstrengenden
Leistungen jedes Einzelnen und wagte fürs erste
nicht, irgendwelche Zwischenfragen zu stellen, die die
Kameraden von ihrem verantwortungsvollen Dienst ablenken
mussten. Aber ich war auch erfreut über den
Kameradschaftsgeist, der diesen schweren Dienst
offensichtlich erleichterte. Einer machte den Anderen
hilfsbereit auf etwaige Bedenken aufmerksam; auch dem
Fahrdienstleiter als Befehlsgewaltigen gegenüber,
herrschte keine Ausnahme. Der verantwortungsvolle Dienst
forderte eben von selbst kameradschaftliche
Zusammenarbeit.
War wirklich einmal ein Missverständnis entstanden oder
hatte gar der Fehlgriff eines Bediensteten die
Entgleisung eines oder einiger Wagen im Rangierbetrieb
herbeigeführt, dann erwies sich die Kameradschaft erst
richtig. Kein Wort des Vorwurfs wurde laut. Angestrengter,
viel angestrengter als sonst, musste dann umdisponiert,
angeordnet und ausgeführt werden, um den ins
Stocken gekommenen Betrieb baldmöglichst wieder auf
volle Touren zu bringen. Den Schuldigen galt
dann nur das Bedauern und Mitempfinden jedes Einzelne,
dem morgen dasselbe zustoßen konnte. Alle waren heilfroh,
wenn bei solchen Unfällen kein Schwerverletzter oder gar
Toter zu beklagen war, weil sonst der Staatsanwalt in die
Ermittlungen eingeschaltet werden mußte. Wäre dieser
Fall wirklich einmal eingetreten, dann hätte jeder
einzelne Bedienstete die stolze Gewissheit gehabt, dass
der schwere und verantwortungsvolle Dienst im
Urteilsspruch Gerichts seine volle Anerkennung gefunden
hätte.
Solche Fälle kommen ausschließlich im Rangierbetriebe
vor, Züge des öffentlichen Verkehrs sind bei einem
Regelbetrieb durch technische Maßnahmen und
Sicherheitsvorschriften vom Stellwerk aus gegen derartige
Unfälle hundertprozentig gesichert.....
Der Berufsverkehr war vorüber, erst jetzt kam der
Fahrdienstleiter dazu, sich gelegentlich auch mit mir zu
beschäftigen, ohne von seinem Dienst erheblich abgelenkt
zu werdcn. Die Prüfung als Fahrdienstleiter hatte ich
schon früher abgelegt. Eine Information, die der
Übernahme eines dem Fahrdienstleiter fremdem Stellwerkes
vorauszugehen hatte, musste ich noch durchmachen. Wenn
man bedenkt, dass dieser Informationsdienst im
Durchschnitt vier Wochen in Anspruch nimmt, um dem
Fahrdienstleiter die selbständige Übernahme des
Fahrdienstleiterdienstes zu ermöglichen, - zum
erstklassig geschulten Fahrdienstleiter auf
einem schwierigen Großstadtbefehlsstellwerk sind im
Durchschnitt ¾ Jahr selbständiger Dienst erforderlich
dann wird auch der Laie einen Begriff von den
Anforderungen und Leistungen, die an einen
Fahrdienstleiter gestellt und von ihm erwartet werden,
bekommen.....
Die Informationszeit war beendet, ich hatte den Dienst
als Fahrdienstleiter im Wechsel mit den Berufskameraden
übernommen und, wie alle Kameraden, alle drei Wochen
einen Tag Ablöserdienst als Aufsichtsbeamter auf dem
Bahnsteig zu versehen.
Dieser Ablösetag war herangekommen, ich stand auf dem
Bahnsteig und fertigte die Züge ab. Die Abfahrtszeit
für den Personenzug nach Hamburg war herangekommen. Die
Zustimmung zur Abfahrt hatte der Fahrdienstleiter des
Befehlsstellwerks durch Fahrstellung des Ausfahrsignals
gegeben. Die Türen waren geschlossen, der Zug vom
Zugpersonal fertig gemeldet worden. Nochmals ein
prüfender Blick über den Zug, dann nach der Uhr. Die
Aufforderung zum Zurücktreten vom Zuge ertönt. Der
Uhrzeiger springt auf die Abfahrtszeit, mit dem
Befehlsstab gebe ich den Auftrag zur Abfahrt.
Wieder verlässt ein Zug, dicht mit Reisenden besetzt,
die Hauptstadt. Reisende und Zurückbleibende winken sich
letzte Grüße zu, wer weiß, auf welche lange Zeit. Der
Zug ist in einer Kurve schon zur Hälfte den
sehnsüchtigen Blicken der Zurückbleibenden entschwunden,
da, ein scharfes Anziehen der Schnellbremsen, - ruckartig
kommt der Zug zum Halten. Ich kann gerade noch das
vorzeitige Zurückfallen des Ausfahrsignals auf seine
Haltstellung beobachten. Eilig begebe ich mich durch die
Kurve nach der Zugspitze, um mich beim Lokomotivführer
nach dem Grund des Haltens zu erkundigen, da bleibe ich
wie angewurzelt stehen; ich glaube meinen Augen nicht
trauen zu dürfen, das in etwa 200 Meter Entfernung
stehende, ca. zwölf Meter hohe Befehlsstellwerk ist wie
vom Erdboden verschwunden -, durch einen Unglücksfall
zusammengebrochen. Das Gehirn des Bahnhofs
ist schwer verletzt, kein Fahrzeug bewegte sich. Es ist
um die Personalablösezeit. Wie viel der unglücklichen
Kameraden waren ur Zeit des Unfalls oben, wie viele
mögen unter den Trümmern liegen? Es sind dies die
ersten mitfühlenden Gedanken, die das Herz in Aufruhr
bringen. Unter diesen könntest auch Du liegen, meldet
sich das eigene Ich.
Der Zusammenbruch des Stellwerks löste sofort
selbsttätig Sicherungsmaßnahmen aus. Die auf Fahrt
stehenden Signale fielen auf Halt zurück. Für die
Fahrgastzüge war also sofort jede Gefahr beseitigt.
Schlagartig setzten die Rettungsarbeiten ein. Der
Vertreter des verhinderten Dienstvorstehers übernahm
sofort die Leitung und traf mit einem bewundernswerten
Überblick die erforderlichen Anordnungen.
Noch keine zehn Minuten waren nach der Meldung
Menschenleben in Gefahr vergangen, als auch
schon die Feuerwehr angerast kam und sich hervorragend an
den Bergungsarbeiten beteiligte. Durch eine Kettenbildung
von etwa 80 Mann der Eisenbahnwerkstatt wurde das
Mauerwerk in erstaunlich kurzer Zeit abgetragen.
Wie in einem zerstörten Ameisenhaufen, wo jedes Tierchen
einem unsichtbaren Befehlshaber beim zielsicheren Aufbau
fieberhaft zu folgen scheint, wurde auch hier gearbeitet.
Inzwischen war der zum Stehen gebrachte Personenzug unter
den nötigen Sicherheitsmaßnahmen in die Bahnhofshalle
zurückgedrückt und die Reisenden nach dem Warteraum
beordert worden.
Bei allem Unglück machen sich immer wieder Umstände
bemerkbar, die die Härte des Unglücks mildern, so auch
in diesem Falle. Die durch die Wahrnehmung der
Katastrophe im letzten Augenblick auf das Podest
geflüchteten Bediensteten wurden durch einen berstenden
Pressluftkessel vom oberen Treppenpodest auf die Schienen
geschleudert und kamen so mit dem Leben davon.
Ein Rangierer musste sein Leben lassen, ein
Stellwerksmeister wurde schwer verletzt und konnte erst
nach langer Zeit wieder Dienst, jedoch nicht auf einem
Stellwerk, versehen, die übrigen Kameraden kamen mit
schweren Schäden davon.
Was von den bei den Aufräumungsarbeiten tätigen
Eisenbahnern wohl niemand geglaubt hatte; bereits in zwei
und einer halben Stunde war das gesamte Stellwerk
abgetragen. Der Personenzug konnte unter den nötigen
Sicherheitsvorkehrungen seine Fahrt antreten. Jeder der
an den Rettungsarbeiten beteiligten Bediensteten war auf
diese Leistung stolz. Anerkennende Blick und Worte folgen
dem noch jungen Leiter der Rettungsaktion.
Es war in den fünfunddreißig Jahren meines
Eisenbahndienstes das tragischste Erlebnis. Verschiedene
der treuen Kameraden, die seiner Zeit den Unfall
überstanden haben, ruhen bereits unter grünem Rasen.
Jahre waren inzwischen vergangen, in der Familie
hat sich so manches umgestaltet und die Zeit ging nicht
unbemerkt an uns vorüber.
Das alte Sprichwort jeder Mensch ist seines
Glückes Schmied ist nur berechtigt. Leider musste
ich das auch an mir selbst erfahren.
Durch einen bis zur Selbstsuggestion gesteigerten
starken Willen und zielbewusste Arbeit hatte ich mir mein
Glück geschmiedet. Nur selten fällt es ja den Menschen
unverdient in den Schoß. In jedem Falle hält es jedoch
nur so lange vor, wie man sich dieses Glück zu sichern
weiß. Wie viele der so bedachten Menschen lassen sich
vom Glücksrausch betäuben und merken kaum, wie Ihnen
das Glück entschwindet.
Auch ich habe mir mein Glück, soweit es die
Häuslichkeit betrifft, nicht immer so zu erhalten
gewusst, wie das erforderlich gewesen wäre. Ich war
nicht stark genug, das mir auferlegte Schicksal zu tragen.
Die Folgen dieser Schwäche machten sich später seelisch
recht bemerkbar und werden bis zum letzten Tage an mir
zehren...
Meine liebe Berta, die bis zum fünfzigsten
Lebensjahre vor Gesundheit strotzte, war in die teilweise
recht leidensvollen Wechseljahre gekommen, die sich auf
ihren Gesundheitszustand schwer auswirkten. Nichts konnte
ihr recht gemacht werden, alles regte sie unglaublich auf,
trotzdem beherrschte sie sich musterhaft und trug ihr
Leiden für sich.
Man merkte ihr an, sie war sich selbst im Wege und sich
selbst zu viel. Nicht einmal eine Freude konnte man ihr
bereiten, sie wies alles entschieden ab und verlor jedes
Interesse am Leben. Wenn sie auch schon immer wie
jeder Mensch ihre Eigenheiten hatte, die
Wechseljahre steigerten diese Eigenheiten zu einer
schweren melancholischen Krankheit, die ihr den
Fortschritt der Zeit nicht begreifen ließ.
Die älteste Tochter hatte die in hohem Alter
stehenden Großeltern acht lange Jahre treu und
aufopfernd gepflegt und sich während dieser Zeit in
einen strebsamen, tüchtigen Menschen verliebt. Das hatte
eine krankhafte Erregung der Mutter wachgerufen, die, wie
viele Mütter, die so eifersüchtig überwachte Liebe der
Mutter zu verlieren glaubte. Ich musste oftmals energisch
auftreten, um die Kranke aus ihrer schweren
Eigenbrödelei wachzurufen. Das verursachte mir mehr weh,
als meiner Berta selbst.
Das Leben schreitet nun einmal weiter und lässt sich
durch Menschen und Menschenschicksale nicht aufhalten.
Der Sohn hatte sich einige Ersparnisse zurückgelegt und
gedachte sich ein Geschäft einzurichten. Als er mit
diesem Wunsche und der Bitte um Unterstützung an uns
herantrat, gab es wieder schwere Zeiten. Es war wohl
weniger der Gedanke an die geldliche Unterstützung, die
ich unserem Ältesten zukommen ließ, als die
Befürchtung, nun auch noch den Sohn aus ihrer Fürsorge
geben zu müssen, die der Mutter neue Aufregungen brachte.
Die Beschaffung einer Aussteuer für Charlotte und eines
für die damalige Zeit nennenswerten Betrages für die
Geschäftseinrichtung unseres Einzigen,
hatten meine Barmittel und Kreditfähigkeit erschöpft.
Die mir aufgebürdete Arbeitsüberlastung bei der
Einrichtung und während der ersten Zeit der
Inbetriebnahme des Geschäftes, neben dem schweren Tag-
und Nachtdienst bei der Eisenbahn und nicht zuletzt
selbst verschuldete eheliche Sorgen führten auch bei mir
zu einem Nervenzusammenbruch, den ich jedoch infolge
meines allgemeinen Gesundheitszustandes und meines
Lebenswillens bald überstand.
Der Gesundheitszustand meiner lieben Berta wurde jedoch
mit der Verschlechterung eines schweren Frauenleidens
immer bedenklicher, trotzdem durfte kein Arzt zu Rate
gezogen werden, lieber wollte meine Frau zum Fenster
hinaus springen.
Endlich gelang es meinem und meines Sohnes Zureden, dass
sich die schwerleidende Mutter einer tüchtigen Ärztin
anvertraute. Eine Operation war erforderlich. Nach einem
guten Verlauf dieser Operation hielt die Ärztin auch
eine wesentliche Besserung des Allgemeinzustandes für
wahrscheinlich.
Schwere Tage und Nächte folgten, bis sich meine
bedauernswerte Kranke zu dem Entschluss einer Operation
durchgerungen hatte. Eines Tages brachte ich sie nach dem
Krankenhaus. Beim Aussteigen bemerkten wir vor einem
zweiten Portal einen Leichenwagen, die Pferde mit
schwarzen Trauerdecken und Stutzen versehen. Dieser
unerwartete Anblick wirkte verständlicherweise
deprimierend auf meine schwerkranke Berta und sie bat
herzlich: Bringe mich wieder nach Hause, ich will
in Euren Armen sterben. Blutenden Herzens, mit
verkrampften, schmerzverbissenen Gesichtszügen, ein
Aufschluchzen unterdrückend, wandte ich alle
Beruhigungsversuche an, um sie dem ärztlichen Ratschlag
doch noch gefügig zu machen.
Ich wurde innerlich etwas ruhiger, als ich mein liebes
Weib in dem sauberen Bett sah und unter ärztlicher Obhut
wusste. Die Tür des Krankensaales hatte sich jedoch kaum
hinter mir geschlossen, als die erlösenden Tränen über
meine Wangen liefen.
Trotzdem war ich voller Hoffnung, hatte ich doch bereits
einmal meinen lieben Jungen und Stammhalter im
vielversprechenden Alter von zehn Jahren zur Operation in
das Krankenhaus einliefern müssen. Dazumal hatte ich mit
meiner lieben Berta zum ersten Male in unserem Leben
gemeinsam vor dem leeren Bett unseres Sprösslings
gekniet und einem Herrgott tiefempfundene heiße Gebete
von tränenbenetzten Lippen um die Erhaltung unseres
Erdenglücks entgegengebracht.
Unsere Bitte ging in Erfüllung. Mit dieser
Rückerinnerung an den Glauben und das geduldige
Ausharren unseres Bertholds, hatte ich vor wenigen
Minuten die Mutter gestärkt; ich richtete mich auch
selbst daran wieder hoch.
Sechs Wochen hatte Muttchen schwer gelitten und war
glücklich, als ich ihr die voraussichtliche Entlassung
kommenden Sonntag in Aussicht stellte.
Ein Erlebnis, dass die Patientin trotz ihres schweren
Leidens zu überstehen hatte und von dem sie bis zu ihrem
fünf Jahre später erfolgtem Ableben gepeinigt wurde,
vertraute sie mir am Tage ihrer Rückkehr aus dem
Krankenhause an. Ich werde diese, einer Schwerkranken von
einem Geistlichen angetane erpresserische
Seelenpein nie vergessen.
Wir waren verschiedener Konfession, beide jedoch
liberaler Gesinnung und stimmten in den Fragen des
Religionswesens und ihrer politischen Bedeutung überein.
Meine Frau fühlte sich durch ein Vergehen ihres
Beichtvaters aus der Schulzeit, der dann
einem Herzschlag erlegen war, nicht mehr an
ihre Kirchenpflichten, besonders nicht mehr an eine
Beichte, gebunden. Sie war daheim auf ihre Art fromm.
Schon vor der Operation wurde meine Frau von den
katholischen Schwestern zur Beichte ermahnt. Sie lehnte
mit der Begründung ab, dass ihr ein Mensch, auch wenn er
Pfarrer sei, die Sünden nicht vergeben könne, auch wenn
er Pfarrer sei, die Sünden nicht vergeben könne; das
müsse sie mit ihrem Gewissen und mit ihrem Gott allein
abmachen. Sie fühle sich auch zu schwach, einer
kirchlichen Handlung folgen zu können.
In jedem Stadium der Krankheit versuchten Pfarrer und
Schwestern erneut, ihren Einfluß auf die Schwerkranke
geltend zu machen, bis sie mir von diesen Belästigungen,
die sie trotz ihres schweren Leidens über sich ergehen
lassen musste, einige Tage vor ihrer Entlassung aus dem
Krankenhaus Mitteilung machte und mich um Rat befragte.
Liebe Berta, Du kennst ja unsere Stellung zur
Religion und hast volle Handlungsfreiheit. Wenn Du hoffst,
eine innere Erleichterung zu finden, dann gehe ruhig zur
Beichte, ich möchte Dich bald vollkommen gesund
wiederhaben.
Wenn ich etwas zu beichten habe, dann bist Du mir der
Nächste dazu, das habe ich auch der Schwester gesagt.
Diese gab ihr darauf zur Antwort, dass meine Mischehe und
die Erziehung meiner Kinder im evangelischen Glauben
schon eine Todsünde sei, die den Verlust der
Ewigen Seeligkeit nach sic ziehen müsse.
Strenge Dich mit solchen Gedanken nicht unnütz an,
Mädel. Wenn sie Dir zu viel zusetzen, dann tue ihnen den
Gefallen. Die Schwestern haben Dich treu gepflegt, sie
haben ihre Freude an dem Erfolg ihrer Bemühungen.
Sag dem Pfarrer, dass Dein evangelischer Mann auch
kein Verbrecher und nach seiner Art gottgläubig sei.
Ich verabschiedete mich herzlich von meiner in
Seelennöten befindlichen Schwerkranken und konnte ihr
Versprechen, sie in drei Tagen, allerdings auf ihre
eigene Verantwortung, zu uns zurückzuholen.
Der von meinem schwer geprüftem Weibe so sehr
ersehnte Tag der Rückkehr war herangekommen. Ein
bekränztes Herzlich willkommen prangte über
der Tür, Blumen schmückten das trauliche Heim, das
unsere Heimgekehrte mit einem tiefen Atemzuge der
Erleichterung betrat. Sie musste fest liegen und bedurfte
allergrößter Schonung. Nach einem stärkenden Schlafe
fand sie ein gutes Mittagessen vor. Am liebsten hätte
sie gleich wieder ihre Wirtschaft versehen, das konnte
ich jedoch nicht zulasen. Soweit mir das bei meinem
Dienst möglich war, besorgte ic die Hausarbeit mit.
Wir saßen am Kaffeetisch, als meine Frau die
letzten Tage im Krankenhaus schilderte.
Die Schwestern hatten alles daran gesetzt, um m ich
als unbußfertige Sünderin entlassen zu müssen,
erzählte sie. Die Kapelle konnte ich nicht
aufsuchen, da mir das Stehen, Gehen und Sitzen zu schwer
fiel. Sie fuhren mich in das neben dem Krankenzimmer
befindliche Badezimmer, wo sich das Klosett befand, zur
Beichte. Vor diesem Zimmer postierte sich eine Schwester
für die Zeit der Heiligen Handlung.
Nach den üblichen Zeremonien stellte der Pfarrer unter
anderem auch folgende Fragen: Wann waren Sie das
letzte Mal ur Beichte?
Vor etwa dreißig Jahren.
Sind Sie durch Ihr schweres Leiden, dass Ihnen der
Herr auferlegte, nicht an die Kirche gemahnt worden?
Ich bedurfte keiner Ermahnung an die Kirche, ich
habe in meinem Heim Zwiesprache mit unserem Herrgott
gehalten, so ungestört könnte ich das in der Kirche
nicht.
Hatten Sie denn nie das Bedürfnis oder Verlangen,
ihr Gewissen durch die heilige Beichte zu erleichtern?
Nein dieses Verlangen wurde mir durch meinen
Beichtvater aus der Schulzeit verleidet. Dieser Pfarrer
hatte sich die schwerste Sünde gegen eine Schulfreundin
zuschulden kommen lassen, die nicht ohne Folgen blieb und
starb dann, wie man sagt, an einem Herzschlag.
"Durch den Eingang einer Mischehe haben se eine
Todsünde begangen, das war Ihnen doch bekannt?
"Nach dem sittlichen Gesetz habe ich keine Sünde
begangen, wir beten zu einem Gott, Herr Pfarrer. Ist denn
mein herzensguter Mann, weil er evangelisch ist, ein
Verbrecher, ein Verbrecheraber, wenn er nur katholisch
ist und seine Beichte abgelegt hat, ein Gott
wohlgefälliger Mensch?"
Absolut nicht, nur ist diese ihre Handlung gegen
die Gesetze der katholischen Kirche und muss ihre Sünde
finden. Warum haben Sie Ihre Kinder nicht der
katholischen Kirche anvertraut?
Mein Mann ist der Erzieher und Ernährer meiner
Kinder, er hat die Kinder im christlichen Glauben zu
anständigen, herzenslieben Menschen erzogen, so, dass
wir stolz darauf sind. Ich bin überzeugt, meine Kinder
konnten im katholischen Glauben auch nicht besser erzogen
werden.
Nun sagen Sie, wollen Sie nicht dahin wirken,
wenigstens Ihre elfjährige Tochter dem katholischen,
also ihrem Glauben, zuzuführen? Sie haben, wie Sie
selbst sagen, einen herzensguten Mann, dann wird er Ihnen
in Ihrem Krankheitszustande auch diese Bitte nicht
abschlagen.
Was wäre wohl der katholischen Kirche mit dem
Übertritt meiner Tochter gedient?
Frau Jetschke, diese Frage ist leicht zu
beantworten. Ihre Tochter geht später eine Ehe ein, der
Kinder entsprießen. Diesen Kindern ist, nach dem Gesetz
des Menschwerdens, das gleiche beschieden und so weiter.
Das sind nach Jahren hunterte von Menschen und tausende
von Kirchensteuern, die der katholischen Kirche verloren
gehen. Die katholische Kirche ist aber ein Staat für
sich und wie jeder andere Staat auf seine Einnahmen
angewiesen, das ist Ihnen doch verständlich?
Das ist mir nur allzu verständlich. Hier wird der
Götze Mammon, der nach den Lehren der Kirche
den Teufel in sich birgt, zum Erhalter der Kirche. Ich
bin meinem Manne schon dankbar, dass er meine Steuern
für die katholische Kirche widerspruchslos aus seinem
Einkommen bezahlt, soll ich ihm auch noch die Tochter und
den Kindern die Schwester entfremden? Über die
Religionsfragen war ich mir mit meinem Manne schon vor
der Ehe einig; in diesem Sinne habe ich meinem Manne
schon vor dem Altar die Treue geschworen, und ein Eid ist
heilig, Herr Pfarrer.
Frau Jetschke, Sie müssen sich als gläubige
Katholikin, die Sie nun einmal sind, wieder mehr der
Kirche einfügen, Beichte und Abendmahl regelrecht
besuchen, sich jedes intimen Gespräches und Verkehres
mit Ihrem Manne entziehen und immer wieder versuchen,
Ihre Kinder, wenn auch erst nach deren Volljährigkeit
dem katholischen Glauben zuzuführen.....
Vom Erzählen war meine arme Berta sehr angestrengt, sie
legte sich hin. Am Morgen erst hatte man ihr die Beichte
abgenommen. Ich war über solch segensreiches
Wirken eines katholischen Geistlichen, einer
Schwerkranken gegenüber, innerlich sehr verbittert und
nahe daran, dem Direktor des Krankenhauses und dem
Seelsorger ein geharnischtes
Dankschreiben über die unverschämte
Klosettbeichte, als das ich diese Handlung
nur bezeichnen konnte, zuzusenden. Auf die herzlichen
Bitten meiner sowieso schon gepeinigten Frau nahm ich
jedoch Abstand davon.
Als das Schicksal, das so viele
Menschen als unabwendbar bezeichnen, einschneidend in
unser Leben griff, hatten wir bereits den größeren Teil
unseres Erdendaseins hinter uns gebracht. Schon einige
Jahre vor dieser Krise hatte mein liebes Weib von
mir noch unbemerkt seelische Kämpfe u bestehen,
die bedauerlicherweise eine innere Entfremdung aufkommen
ließen. Diese Entfremdung musste ich zum wohl nicht
geringsten Teil mir selbst zuschreiben. Ich war zu
herrisch und selbstbewusst, ließ Schwächen andere nicht
gelten und verstand nicht, in der Seele einer Frau u
lesen. Dabei glaubte ich, nicht schlecht zu sein. Ich war
gesund, meine arme Berta schwerleidend -!
Wäre es wohl anders geworden, wenn ich nach Einsicht
meiner teilweisen Schuld noch einmal am Kreuzweg der
Entfremdung zurück gekonnt hätte?
Seit ich mit Erschrecken du innerer Verbissenheit
feststellen musste, dass die erpresste Beichte und der
Zuspruch des katholischen Pfarrers meine arme
Krane vollkommen umgewandelt hatte, war meine zur Schau
getragene Ruhe dahin. Wie oft habe ich mich zu Bekannten
oder in die Einsamkeit des alten Pankower Parks
geflüchtet, um Ruhe vor mir selbst zu finden. Mit den
Bekannten verband uns ein schon fünfundzwanzig Jahre
bestehender herzlicher Familieverkehr, Freud und Leid
wurde gemeinsam erörtert und getragen. Dort fand ich
fast durchwegs Zustimmung für meine Einstellung in
Familienangelegenheiten und Anregungen für mein
Vorwärtsstreben im Dienst. Kamen mir dennoch Bedenken
über den mehr und mehr schwindenden inneren Frieden, so
begab ich mich in den verschwiegenen Park, um ungestört
meinen Gedanken folgen zu können. Dieser Ur-Park mit
seinen jahrhundert alten Baumriesen, den künstlerisch
eingestreuten Unterholzgruppen und der sich in vielen
Windungen durchschlängelnden Panke mit den versteckt
liegenden Übergängen, auf der sich Wildenten zahlreich
tummelten war so recht zum Träumen geschaffen.
Auf einem Hügel war ein Plätzchen, von dem man einen
wunderbaren Überblick über den malerischen alten Park
hatte. Zwischen Baumgruppen, halb versteckt, lugte das
einfache Schloß der wenig glücklichen Königin
Ernestine Christine hervor. In diesem
Schlosse hatte die Gemahlin des Großen
Königs einen erheblichen Teil ihres Lebens
verbracht, während ihr Gemahl auf Schloß Sanssouci
dominierte. In diesem Park, auf diesem Hügel, hatte die
Verbannte stets eine Schar Kinder um sich, denen ihr
liebendes Herz zuwandte und denen sie u Ostern
persönlich Eier versteckte. Hier war ihr
Sanssouci (ohne Sorgen). Hier mochten schon
tausende, gleich mir, Ruhe vor ewiger Bedrängnis gesucht
haben.
Hereinbrechende Dämmerung, rauschende Baumkronen
und eine heilige Stille fordern hier ein Insichgehen, dem
sich auch der Gleichgültigste nicht entziehen kann. Von
hier aus trat ich oft seelisch erleichtert den Heimweg an,
und ich hatte das beruhigende Empfinden, als wenn etwas
unbekannt Großes mir wohltuende Absolution erteilt
hätte.....
Unsere Kinder Berthold und Charlotte waren verheiratet.
Zwei allerliebste rüplige Gärtnerbuben hatten sich als
Enkel eingefunden. Die Familie war größer und dabei
doch kleiner geworden. Zu Hause verblieb neben mir noch
die Schwerkranke und Elfriede, die noch zur Schule ging
und ihr alles geworden war. Muttchen wollte niemand mehr
um sich sehen. Ich durfte weder eine Hausgehilfin noch
eine Aufwartung annehmen. Fremde sollten sich nicht
an ihrem Leiden erfreuen!?, erklärte meine
bedauernswerte Berta, selbst die Angehörigen mochte sie
nicht dauernd um sich haben. Ich wollte sie einige Male
nach dem schönen Park zur Erholung fahren, fand jedoch
die gleichen Ablehnungsgründe. Ich hatte meinen schweren
Tag- und Nachtdienst und die Hauswirtschaft zu versehen.
Mutter duldete nicht, dass ihre Jüngste sich mit
Hausarbeit beschäftigte, sie sollte ein besseres
Leben als ihre Mutter haben. Mit solch
krankhaften Gedankengängen beschäftigte sich meine
bedauernswerte liebe Frau. Ich hatte es schwer, sehr
schwer, aber auch das Leiden unseres lieben Muttchens
trat stärker auf: Die Operation hatte nicht die erhoffte
Wirkung gehabt, der alte Zustand trat wieder ein. Das
dauernde Liegen war meiner Berta unerträglich geworden.
Eines Tages ging meiner lieben Kranken aber doch die
Geduld aus. Von der Chaiselongue, die ihre dauernde
Liegestatt geworden war, konnte sie das ganze Zimmer
übersehen und stellte die Notwendigkeit der
Teppichreinigung fest. Kranke denken sehr viel und so kam
sie auf den unglücklichen Gedanken, nur schwere Arbeit
könne ihr helfen und sie wieder gesund machen. Kurz
entschlossen quälte sie sich auf, rollte mit ihren
schwachen Kräften den großen Veloursteppich, den sonst
der Pförtner zu reinigen pflegte, zusammen, schleppte
diesen eine Treppe abwärts nach dem Hof und klopfte und
bürstete drauf los. Dann quälte sie sich den Teppich
wieder auf die Schulter, um ihn wieder in das Zimmer zu
schleppen.
Das war für den geschwächten Körper zu viel, sie brach
zusammen., musste auf ihr Lager gebracht werden und
sollte es nicht mehr verlassen.
Als ich vom Dienst nach Hause kam, gestand mir meine arme
Frau ihre leichtsinnige Handlung. Sie war schwer zu
Schaden gekommen. Vier der leidvollsten Monate folgten.
Vollständig siech gab sie nach ernste Vorhaltungen zu,
dass wir ihre Nichte Maria aus ihrer Heimat zu Pflege
heranholten. Dieses Mädchen war für die Kranke ein
Stück Heimat, sie tat ihrer Tante alles zugute und
pflegte sie aufopfernd. Bald war sie ihr unentbehrlich
geworden.
Das Schlimmste war trotz aufopfernder Pflege nicht mehr
aufzuhalten. Eine Tages, meine Berta hatte wieder einmal
schwer aushalten müssen, leistete ich ihr tröstenden
Beistand. Da umschlang sie mich, seit langen Jahren das
erste Mal, herzlich und bat unter Tränen, die ich bisher
an ihr nicht kannte, um Verzeihung für alles Böse, was
sie mir bisher habe antun müssen. Habe auch
herzlichen Dank für die aufopfernde Pflege, sagte
sie, ich spüre, dass ich von Euch gehen muss. Sei
unserer Elfriede kein zu strenger Vater, morgen ist ihr
Geburtstag.
Erschöpft fiel sie auf ihr Lager zurück. Nach besten
Kräften beruhigte ich meine Berta und nahm alle Schuld,
soweit überhaupt von einer solchen gesprochen werden
konnte, auf mich.
Das Leben hat uns unseren Weg vorgeschrieben, liebe
Berta, alles was es uns an Freud und Leid gab,
haben wir durch unseren Fleiß errungen. Wir wollen
versuchen, das Leid zu vergessen, vielleicht ist uns doch
noch ein gemeinsamer Lebensabend beschieden.
Am Abend desselben Tages mussten wir unser Muttchen in
das Krankenhaus bringen, wo sie sich noch einmal zu
erholen schien. Morgen hat unsere Elfriede
Geburtstag, erinnerte sie mich noch einmal,
kaufe ihr einen schönen Mantel mit Pelzkragen, wie
sie sich ihn gewünscht hat. Meine letzte Bitte aber ist,
lass mich christlich beerdigen. Maria, die
Pflegerin, und ich verabschiedeten uns. Ich hatte noch
ein mal Hoffnung auf Erhaltung ihres Lebens und ahnte
nicht, dass es ein Scheiden für immer sein sollte. Am
Geburtstag ihrer Elfriede schloss eine tapfere treue Frau
und Mutter, die in Arbeit und Entsagung ein Familieglück
aufbauen half, für immer ihre lieben Augen. Vergessen
war der Missklang der letzten Jahre. Erst jetzt wurde mir
bewusst, was ich an meiner Verstorbenen verloren hatte.
Die Kinder bilden das wertvolle Vermächtnis für mich.
Ein schöner klarer Wintertag war es, vier Tage
vorm Heiligen Abend, als wir unsere liebe Verstorbene
unter den Zeremonien ihres Glaubens zur letzten Ruhe
bestatteten.
Am Heiligen Abend schmückte eine Tanne das Zimmer,
das Bild unseres lieben Muttchens stand darunter. Für
uns waren es stille heilige Stunden, in denen wir den
langen Weg, den wir mit unserer in aller Ewigkeit
ruhenden lieben Entschlafenen auf dieser Erde
durchwandeln durften, noch ein Mal an uns vorbeiziehen
ließen. Sie ist nicht gestorben, in uns lebt sie weiter
bis an unseres Lebens Ende.
Das Leben gehört den Lebenden wurde
mir oft mahnend zugerufen, wenn ich ersichtlich grübelte
und den Kopf hängen ließ, es stellt ja auch unentwegt
seine Forderungen an den Menschen.
Kam ich vom Dienst nach Hause, dann hatte die
zwanzigjährige Nichte Maria wohl alles in bester Ordnung
es war eine tüchtige Haushilfe aber
Muttchen fehlte ihr doch, obwohl sie jahrelang wenig oder
nichts arbeiten konnte. Elfriede war in der
kaufmännischen Lehre und musste mit betreut werden.
Versuchte ich mich irgendwie abzulenken und stieß dabei
unvermutet auf Hinterlassenschaften meiner Verstorbenen,
dann wurde ich innerlich gepackt. Jedes harte oder auch
nur mahnende Wort, das im Leben meiner Berta gegolten
hatte, stand anklagend vor mir. Jede Selbstberuhigung mit
dem Schicksal oder mit den Schwächen anderer halfen mir
nicht darüber hinweg.
Jetzt, wo die Entschlafene in kühler Erde ruhte, machte
ich nur meine eigene Schwäche für alles Vergangene
verantwortlich und wollte nur an meine Schuld glauben.
Den schweren Existenzkampf, den es im ersten Jahrzehnt
unserer Ehe durchzufechten galt, hatte die Verewigte
unter großer Aufopferung, Entbehrung und in großer
Geduld treu an meiner Seite durchgehalten. Das hatte ich
mir bereits bei Lebzeiten meiner lieben Berta in bewegten
Stunden immer wieder sagen müssen. Dazumal schien mir
das selbstverständlich, heute dachte ich anders darüber.
Diese und ähnlich schwerwiegende Gedanken und Vorwürfe
machte ich mir immer von neuem. Sie zehrten in Verbindung
mit de aufreibenden Dienst dermaßen an meiner Gesundheit,
dass eine Erholungskur dringend erforderlich wurde.......
Im Taunusgebirge liegt auf bewaldeter Höhe ein
ehemaliges Schloß. Von hier aus hat man einen fesselnden
Rundblick in die Umgebung von Königstein.
Herrliche Ausflüge auf stillen Waldwegen nach dem
Feldberg, dem in einer Talsenke idyllisch gelegenen
Städtchen Kronberg, dem berühmten Bad Soden und den
sonstigen, wie aus einer Spielzeugschachtel aufgebauten,
zerstreut liegenden Ortschaften, sind so recht dazu
geschaffen, die Sorgen zu vergessen und die Nerven zu
entspannen. Dieses Schloß hat die Reichsbahn für einen
Millionenbetrag für im Dienst beschädigte und von
langer Krankheit genesende Arbeitskameraden eingerichtet.
Es ist das heutige Taunusheim.
Zu der mit einer Drehtür versehenen und mit einem
gläsernen Vordach überbauten Haupteingang führt die
Anfahrt durch einen mit Wiesenblautannen gezierten
Vorpark. Hat man sich in das Innere des Heims
hineingedreht, befindet man sich in einer mit
Fliesen ausgelegten und mit dicken Läufern versehenen
großen Vordiele. Moderne, rot lackierte Stahlrohr- und
andere bequeme Möbel, von Palmen und Blumenarrangements
geschmackvoll umkleidet, fordern geradezu zum Ausruhen
auf. Ein Portier empfängt die Neuankömmlinge und sorgt
für die Überbringung des Gepäcks vom Bahnhof auf das
bereitgehaltene Zimmer. Eine vollständige in Marmor
gehaltene, etwa 3 m breite Treppe, von kunstvollen
Marmorsäulen gestützt und von Ballustraden in gleichem
Material wirksam unterbrochen, führt in die langen
Korridore der einzelnen Etagen. Auch Treppen und Flure
sind mit dicken Veloursteppichen und Läufern bedeckt.
Ein fast lautloses Treppauf und Treppab schafft
wohltuende Ruhe.
In dem etwa 20 qm großen Zimmer, das ich mit einem
Arbeitskameraden aus Hamburg teile, befinden sich unter
anderem zwei weißbezogene gute Betten, ein Schreibtisch,
der durch einen einzigen Griff in einen Frisiertisch
verwandelt wird, ein Chaiselongue und ein geräumiger
Schrank für Kleidung und Wäsche. Fließendes warmes und
kaltes Wasser und sogar Lichtschaltung vom Nachtlager aus,
verbürgen größte Bequemlichkeit der
Erholungsbedürftigen. Die vorhandenen Bäder und
sanitären Einrichtungen sind luxuriös und mustergültig.
Im Parterre befindet sich ein schöner Musiksaal, ein
Billard- und Rauchzimmer, ein Damenzimmer, ein Schreib-
und Lesezimmer, ein gut gepflegter Wintergarten mit
Tischtennis, zwei große, für dreihundert Gäste
berechnete Speisezimmer, eine dem Wald gegenüberliegende
Veranda zur Einnahme des Nachmittagskaffees mit etwa auf
Besuch befindlichen Angehörigen und die schon erwähnte
Vordiele für etwa fünfzig Personen. Alle diese Räume
wirken mit ihrer geschmackvoll einfachen Einrichtung
vornehm und beruhigend auf die Besucher. Ganz besondere
Sorgfalt ist auf die Bewirtung der Gäste gelegt. Wer
nicht gerade zur Diätkost gezwungen ist, könnte sich im
Taunusheim auf dem Wege in das Schlaraffenland fühlen.
Die Serviermamsells mit ihren schwarzen Kleidern, weißen
Schürzen und Häubchen sind stets befleißigt, ihre
Gäste individuell und zuvorkommend zu bedienen. Die
Küchenaufsichtsschwester erscheint oft in den
Speisesälen, wünscht hier und dort guten
Appetit und erkundigt sich nach der
Schmackhaftigkeit der Speisen und dem persönlichen
Wohlergehen.
Der ganzen Aufmachung des Heimes entsprechend ist auch
die Hausordnung. Der Aufenthalt in den Gasträumen, auf
Fluren und Treppen in nachlässiger Kleidung ist
selbstverständlich unerwünscht und unstatthaft. Die
Heiminsassen machen einen sonntäglichen Eindruck; der
Abglanz dieses Sonntäglichen wirkt sich auch auf die
Genesungssuchenden günstig aus. Es handelt sich durchweg
um langjährige Bedienstete und Pensionäre, die hier
volle Genesung, zumindest jedoch eine weitgehende
Erholung von überstandenen Erkrankungen erhoffen.
Auch ich gehörte zu den dreihundert Pfleglingen, die im
Frühjahr 1936 das Taunusheim beherbergte. Ein
tragikomisches Ereignis gibt mir Veranlassung, meinen
dortigen Aufenthalt besonders zu erwähnen. Das, was dort
den erholungsbedürftigen Reichsbahnbediensteten geboten
wurde, schien nach meinem bescheidenen Empfinden nicht
allzu weit von dem täglichen Leben der oberen
Hunderttausend entfernt zu sein.
Wie in allen meinen Lebenslagen verfolgte mich mein
Missgeschick auch hier. Für den Augenblick empfand ich
es zwar unangenehm und peinigend, als Erinnerung entbehrt
es jedoch nicht eines humoristischen Beigeschmacks.
In den ersten Stunden meines Aufenthalts in dem für mich
feudalen Heim ich war an einem späten Nachmittag
angekommen fühlte ich mich noch etwas unsicher.
Um mich wohl zu fühlen und nicht aufzufallen, musste ich
erst meine Selbstsicherheit zurückgewinnen. Ich
studierte also zunächst einmal die Hausordnung sowie
meine nähere Umgebung gründlich und ließ mich von
meinem Zimmergenossen mit den sonstigen Gepflogenheiten
im Heim bekannt machen. Die Zeit des Abendessens war
herangekommen. Volltönende, tiefe Gongschläge luden
dazu ein. Hunderte von Gästen begabe sich zu ihren
Plätzen, während ich am Saaleingang wartete.
Der Speisesaal gleicht dem eines guten Hotels. Blendendes
Weiß der für je vier Personen gedeckten Tische und der
vorgesteckten Damastservietten, Silberbestecke, blitzende
Nickelterrinen und nicht zuletzt der appetitanregende
Duft der Speisen und das Arrangieren der garnierten
kalten Platten machten, in Verbindung mit den zufrieden
dreinschauenden, gut angezogenen Gästen einen
feiertäglichen, wohltuenden Eindruck.
Bitte, Sie sind heute erst angekommen?, wurde
ich von einer freundlich aussehenden Serviermamsell
gefragt.
Jawohl, Fräulein, Jetschke aus Berlin,
stellte ich mich vor.
Das Fräulein sah ihre Liste nach. Wollen Sie mir
bitte folgen?
Bitte, sehr gern, Fräulein.
Wir schlängelten uns durch einige der Stuhlreihen; vor
einem der Tische blieb die schmucke, freundliche Mamsell
stehen.
Meine Herren, ich bringe Ihnen einen neuen
Tischgast, Herrn Jetschke, wollen Sie sich bitte
miteinander bekannt machen, - allerseits gute Appetit.
Flink und leichtfüßig enteilte die Bedienung.
Nun ja, solche Vorstellungen wirken immer etwas
störend bei Tisch, sind jedoch nicht zu vermeiden.
Allgemeines Stühlerücken.
Müller
Schmidt
Lehmann
Angenehm, meine Herren! Kurz und schmerzlos
war die Vorstellung. Wieder befiel mich eine gewisse
Unsicherheit.
Zuerst taxierte ich kurz meine Tischgenossen, alles
anscheinend altgediente Eisenbahner. Meinem Gegenüber
zierte ein schmissiger Durchzieher über die linke Wange,
Anzug modernster Bauart mit tiefem Ausschnitt
und tadellos weißer Oberwäsche, also Oberbeamter.
Rechts von mir zweifellos Lokomotivführer, linkerseits
verdienter Pensionär, also bunte Reihe.
Langen Se tüchtig zu, Kamerad Jetschke,
sagte einladend mein Gegenüber, das Essen ist hier
sehr gut und abwechslungsreich, wenn es alle ist, wird
nachgereicht. Gut und reichlich essen, ist die beste
Medizin für die Gesundung der Nerven.
Eine Schüssel mit Klößen, eine Terrine Blaubeeren,
eine Wurst- und Käseplatte, ein gefüllter Brotkorb,
reichlich Butter, deckten neben anderen appetitregend den
Tisch.
Allmählich erlangte ich meine Sicherheit wieder. Ich
nahm mir zwei Füllkellen Blaubeeren auf den Teller, dann
spießte ich, den Auftraglöffel hatte ich nicht bemerkt,
einen schönen großen Kloß auf die Gabel, ohne die
Schüssel herüberzunehmend, und versuchte, ihn auf den
Teller zu balancieren. Den Kloß schien diese Behandlung
zu beleidigen, so dass er seinen inneren Halt verlor. E
machte sich selbständig. In zwei Teilen knallte er
förmlich in die Blaubeerterrine hinein, den Inhalt
rücksichtslos nach allen Seiten verspritzend.
Tischtuch, Serviette, Oberwäsche, Kragen und Gesicht
meiner Tischgenossen boten einen bejammernswerten Anblick
der Verwüstung. Ausgerechnet meinem Gegenüber mit dem
tiefen Ausschnitt und der blütenweißen Wäsche war sehr
mitgespielt worden. Einige Blaubeerspritzer hatten sich
in dem Durchzieher der linken Wange vereinigt und waren
darin herabgelaufen. Er sah aus, als wenn er frisch von
der Mensur gekommen und noch nicht verbunden wäre. Ich
wurde puterrot im Gesicht ohne Blaubeeren
entschuldigte mich ob meiner Ungeschicklichkeit und
gedachte mich ratlos vom Tisch zurückzuziehen. Da waren
aber auch schon zwei Mamsells mit dem Servierwagen zur
Hand, sprachen freundlich auf mich ein, deckten den Tisch
schnell um und gaben neue Servietten heraus. Mein
Gegenüber sah mir meine große Verlegenheit und innere
Erregung an. Er fand trotz größter Mitleidenschaft noch
beruhigende Worte für mich und sagte: Herr
Jetschke, nun wollen wir aber gut nachholen, sonst nimmt
der Magen auch noch Schaden und das ist weit schlimmer.
Während des Essens habe ich keinen Blick mehr von
meinem Teller gelassen. Wenn ich hochschaute, sah ich
schuldbewusst die blaubeerbesprenkelten Hemdbrüste und
Kragen meiner Tischgenossen vor mir. Dieser Anblick
beschäftigte und beunruhigte mich noch wochenlang.
Was mir angenehm auffiel, war das taktvolle
Benehmen der Kameraden an den Nebentischen, die den
Vorfall beobachte hatten, ohne eine Miene zu verziehen
oder gar in Heiterkeit auszubrechen; man hätte das in
dieser heiklen Situation und im Hinblick der
sommerbesprossten Leidtragenden trotzdem
verstehen können.
Als der am schwersten betroffene Reichsbahnrat X
sich nach etwa vierzehn Tagen von uns Tischgenossen
verabschiedete, meinte er auf meine nochmalige
Entschuldigung: Lieber Kamerad Jetschke, diese
unangenehme Situation hat immerhin etwas angenehmes an
sich. Unsere Tischkameraden werden, wenn sie schon
längst wieder daheim sind, mit Humor an den
wildgewordenen Kloß denken, im Familien- und
Kameradschaftskreis diese Episode gern zum Besten geben
und sich dabei unserer Tischgemeinschaft erinnern.
Nach weiteren vier Wochen verließ auch ich das Heim, in
dem ich mich gut erholt hatte, in Richtung Heimat.
Auch bei der Heimreise widerfuhr mir ein kleines
Missgeschick. Am ersten Osterfeiertag wollte ich mit dem
6 Uhr Frühzug der Privatbahn Königstein-Frankfurt
zurückfahren. Die liebenswürdige Mamsell hatte mir
versprochen, um ¾ 6 Uhr meine Reisebeköstigung
bereitzuhalten. Um diese Zeit stehe ich also vor der
Küchenausgabe nichts rührt sich, tiefste Stille.
Ich eile zum Etagentelefon und rufe den Pförtner an, das
genügte, um sofort die Küchenbedienung zu mobilisieren.
Warum sollte ich der stets freundlichen Mamsell am ersten
Osterfeiertage nicht die Ruhe gönnen?
Fräulein, lassen Sie alles sein, ich werde
unterwegs schon etwas zu essen bekommen, ich schaffe
sonst den Zug nicht.
Den schaffen Sie bestimmt, der Pförtner ruft schon
beim Bähnle an, dass Sie durch unser Verschulden nicht
rechtzeitig rankommen können. Die Aufsichtsbeamten sind
uns gegenüber sehr zuvorkommend und lassen den Zug so
lange halten.
Der Hausdiener rast mit meinen Koffern vorweg, den Berg
hinunter zu etwa zehn Minuten entfernt liegenden
Privatbahnhöfle.
Zur Abfahrtzeit verließ ich mit reichlicher
Wegzehrung und einigen bunten Ostereiern versehen das
herrliche Taunusheim. Vier Minuten nach der Abfahrtzeit
landete ich, prustend wie die Kleinbahnlokomotive, auf
dem Bahnhof.
"Hetzen Sie sich nicht so sehr ab, Kollege. Sie
kommen schon noch zurecht, rief mir der
Rotbemützte im gemütlichen Tone zu.
Ein kurzer Dank einsteigen abfahren.
Jetzt, wo ich im Ruhestand lebe, gedenke ich noch gerne
dieser segensreichen Einrichtung der Reichsbahn für ihre
Bediensteten.
Nach einem Abstecher zur Taufe meines zweiten
Enkelsohnes Wolfgang im Dom zu Merseburg, traf ich nach
sechs Wochen wieder in meinem Berliner Heim ein.
Maria, die treue Pflegerin meiner Verstorbenen, war bei
meiner Abreise nach dem Taunusheim in ihre Heimat
zurückgekehrt.
Eine neue Hilfe wollte ich nicht mehr annehmen; meine
sechzehnjährige Elfriede musste nunmehr auf eigenen
Füßen stehen lernen. Ich versah neben meinem schweren
Tag- und Nachtdienst die gesamte Hauswirtschaft mit ihr
allein. Das ließ sich auf die Dauer natürlich nicht
durchführen. Die Jugend will auch ihre Rechte haben und
der Dienst meine volle Kraft.
Zu irgend einem Entschlusse musste ich kommen,
wollte ich mich gesundheitlich nicht ganz aufreiben. Eine
Hausgehilfin - ?, das wollte sehr überlegt sein. Eine
Wirtschafterin - ?, wo sollte ich eine solche
Vertrauensperson finden, die ohne Nebengedanken diesen
Posten übernehmen würde? Eine zweite Ehe eingehen - ?
Kleine Kinder gewöhnen sich wohl bald an eine zweite
Mutter; größere sehen in dieser nur allzu leicht eine
Verdrängerin der Verstorbenen und überwachen
eifersüchtig alle Handlungen der Pflegemutter, um den
Vater nicht auch noch zu verlieren.
Wollte ich mir und den Meinen das so schwer erkämpfte
Heim erhalten, dann musste ich mich doch wohl zu einer
zweiten Ehe entschließen, so schwer es mir auch fallen
mochte. Wer sollte meine Pflege übernehmen, falls ich
älter und meine Elfriede verheiratet wäre? Schließlich
entschloss ich mich doch für eine zweite Ehe; ich fiel
dann bei einem späteren Siechtum wenigstens nicht den
Kindern zur Last.
Für die Jugend sind alte Menschen stets eine Last,
auch wenn die Kinder noch so sehr an den Eltern hängen.
Die größte Sorge war nun: Wie komme ich zu einer
all meinen Wünschen entsprechenden Frau?
Gesellschaften und Vergnügungen aufzusuchen, verbot mir
der schwere Tag- und Nachtdienst, an passender
Bekanntschaft fehlte es auch. Es blieb also nur noch der
schon so alte Weg zur Gründung einer Vernunftehe übrig......
An einem Sonntag erschien in einer der viel gelesenen
Berliner Tageszeitungen folgendes Inserat:
|
Behördensekretär, 56/158
wünscht Ehebekanntschaft
mit anhangloser Vierzigerin
gleicher Größe.
Erforderlich volle Gesundheit,
gute Erscheinung,
vornehme Gesinnung,
Klavierspiel erwünscht.
Alleinige Wirtschaftsführung
ist Voraussetzung.
Bildzuschrift unter Postlagerkarte 32,
Berlin N 4 erbeten.
Vermittler und anonym: Papierkorb. |
|
Wieder und wieder las ich die durch
mich aufgegebene Anzeige und bekam es fast mit einer
gewissen Angst vor deren Auswirkung zu tun....
Hell schien die Sonne am wolkenlosen Himmel. Das frische
Grün leuchtete lockend zum Fenster herein; nichts
vermochte mich von dem, was kommen musste und was ich ja
auch gewollt hatte, abzubringen.
Ich ließ erst noch einmal alles Vergangene an mir
vorüberziehen, was mir die erste Ehe gebracht hatte.
Wie hatte ich mit meinem Weibe gesorgt, gearbeitet und
gelitten, mit welchen Schwierigkeiten unser Heim
gegründet, bis es so dastand, wie ich es vor Augen hatte.
Jetzt sollte es sich eine fremde Frau in dem so schwer
erkämpften und daher so wertvollem Heim gemütlich
machen? Kampf- und sorglos sollte einer Unbekannten das
schwer Erkämpfte in den Schoß fallen? Bis zu ihrem Ende
sollte sie keine Nahrungssorgen mehr haben. Würde das
eine Frau überhaupt zu schätzen wissen?
Fort mit solch melancholischen Träumereien, die ja doch
nicht den Tatsachen entsprechen. Die Frau setzt ja auch
ihre ganze Arbeitskraft ein, sie sorgt sich um das
Gemeinwohl der Familie, für sie gibt es keinen Acht-
oder Neunstundentag. Jede Ehefrau, ob die erste oder
zweite, ist ja leider das alleinige Arbeitspferd in der
Familie---! Ist es nicht so, liebe Leser? Drum nochmals
fort mit solch revoltierenden Gedanken; hinaus in den
schönen Pankower Schlosspark - der Lebende gehört dem
Leben - , auch ich lebe ja noch.
Acht Tage hatte ich vergehen lassen, ehe ich Nachfrage am
Postschalter hielt. Der Schalterbeamte betrachtete mich
vielsagend und vielfragend als er meine Lagerkarte
entgegen nahm. Zwei gebündelte Pakete und einige lose
Briefe reicht er mir heraus. Ich spüre, wie mir das Blut
ins Gesicht steigt und verlasse schnell den ungewollten
Ehevermittler.
Die Aktenmappe reicht für die Unterbringung der Briefe
kaum aus; wie viel Glück versprechende und Glück
heischende Briefe mögen es sein? Kann ich diese Flut von
Zuschriften ohne Inanspruchnahme von Urlaubstagen
bewältigen?
Daheim angekommen, schließe ich mich in mein Zimmer ein,
obwohl ich allein bin. Erst schnell die Briefe
durchzählen.
Zweihundertdreizehn Briefe liegen vor mir, spricht das
nicht eine Sprache für sich?
Ich werde mir plötzlich meines Wertes bewusst.
Eine von allen diesen Frauen soll das von ihnen
vermutete Große Los treffen vielleicht ist
es noch eine größere Niete.
Ich konnte mich gar nicht in den Erfolg meines Inserates
hineindenken, bis ich darauf kam, ich hatte jede
Vermögensforderung unterlassen.
Vier lange Wochen habe ich hinter verschlossenen Türen
Briefe sortiert, gelesen, beantwortet, Bilder
zurückgeschickt, dazwischen den Haushalt besorgt,
Zusammenkünfte getätigt, Dienst versehen, wieder Briefe
erhalten und beantwortet. Monatelang zog sich die
Entscheidung hin.
Einmal wurde ich trotz verschlossener Tür von meiner mit
einem Schlüssel ausgestatteten Schwiegertochter
überrascht, wie ich den Badeofen mit Liebesbriefen, die
doch eigentlich eine besondere Glut entfachen entfachen
mussten, anheizte. Wenn es für mich auch eine peinliche
Situation war, meine Schwiegertochter schaltete sich
resolut in die Beratungen ein. Die heikle Lage war damit
gerettet.
So paradox es auch klingen mag, das Studium der Wunsch-
und Sehnsuchtsbriefe war zwar eine Überanstrengung,
wurde jedoch durch seinen teilweise grotesken Inhalt zu
einer ablenkenden Erholung. Einige dieser teils drolligen
und ungelenken, aber auch schönen Briefe, möchte ich
in diskretester Form natürlich zur
Erbauung der Leser wiedergeben:
1. Brief:
|
Sehr geehrter Herr !
Wenn ich auch nicht allen Ihren Wünschen
entspreche, so habe ich doch den Wunsch meinen
Jungen, den ich unglückliches Menschenkind von
einem verheirateten Manne bekommen habe, einen
ehrlichen Namen zu geben.
Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt, gesund und in
der Lage einen Haushalt zu führen.
Ich habe wegen Ihre Alters keine Bedenken und
würde mich Ihnen zeitlebens dankbar erweisen.
Sie können sich bei meinen Eltern, zu denen ich
nicht mehr kommen darf, über mich erkundigen.
Ich wohne mit meinem Kinde ..... usw. |
|
2. Brief:
|
Sehr geschätzter Ehekandidat !
Ich weiß, Sie bekommen sehr viel Briefe,
auch verlockende. Legen Sie den meinen an den
Schluß Ihrer Eingänge. Sie werden doch auf mich
zurückkommen. Ich spiele gut Klavier; das
Spielen ist geradezu meine größte Leidenschaft.
Ich bin 52 Jahre, Ihre Wünsche gehen bei mir
restlos in Erfüllung. Teilen Sie mir bitte mit,
wann Sie mich in meiner gemütlichen
Dreizimmerwohnung aufsuchen wollen.
Ich werde entsprechend umdisponieren, um Ihnen
Ihre Lieblingskomponisten vorzuspielen. Sie
werden diesen Abend nicht zu bereuen haben ---Das Bild machte ebenfalls einen
guten Endruck, der Besuch unterblieb dennoch.
|
|
3. Brief:
|
Geehrter Herr Behördensekretär
!
Ich las Ihre Anonkse, auf die ich mich
erlaube an Sie zu schreiben. Ich bin 39 Jahre,
davon 14 Jahre in Stellung, wofon ich gute
Zeugnisse habe.
Über 12000 Mark habe ich auf der Kasse. Ich
mache alles alleine und möchte einen besseren
Mann haben. Ich habe noch mit keinem Manne nicht,
was gehabt, davon können Sie sich bei meiner
Herrschaft erkundigen. Sollten Sie was brauchen,
dann bin ich nicht so.
Ich habe in den vielen Jahren oft was bekommen
und davon zurückgelegt um mal einen Beamten zu
kriechen nach den ich mir schon lange sehne.
Hoffentlich sind sie ein recht guter Mensch, weil
ich schon mal 500 Mark bei einen Schwindler los
geworden bin.
Meine Herrschaft habe ich versprochen nicht ohne
Sie zu heiraten weils mir nicht wieder so
gehen soll.
Am Sonntag habe ich Ausgang, hohlen sie mir von
meine Herrschaft ab .....straße 17,
Schlächterei usw. |
|
Ein Bild lag nicht dabei. Nein, liebe Leser, ich habe den
Brief nicht verworfen. Ich habe mir die Schreiberin zu
einer Tasse Kaffee in die Konditorei Aschinger bestellt,
schließlich gedachte ich auch etwas Menschenkenntnisse
zu sammeln; wie musste ein so naives, älteres Mädchen
wohl aussehen?
An einem schwülen Junitage wartete ich in der Konditorei
Aschinger am Oranienplatz auf meine Naive, das
Erkennungszeichen lag frei vor mir. Der Raum war angenehm
kühl und nicht stark besetzt, so dass ich ein Plätzchen
an einem der kleinen Marmortischchen im Hauptgang belegen
konnte.
Eine halbe Stunde hatte ich schon vergeblich der Dinge
gewartet, die da kommen sollten und wollte mich wieder
entfernen, als ein späteres Mädchen an das
Tischchen herantrat und sich verschüchtert niederließ.
Für die Erwartete sah sie mir zu adrett und intelligent
aus, sie machte sich auch sonst nicht bemerkbar. Ein
Erkennungszeichen für Sie war nicht
vereinbart.
Zehn lange Minuten saßen wir so. Ihre Auge
sprachen, der Mund blieb zu. Ich packte das
Erkennungszeichen fort und schickte mich an, zu gehen, da
sprach sie endlich: Entschuldigen Se, Sie sind wohl
der Beamte, der mir heiraten will.
Ob die lieben Leser es glauben wollen oder nicht, mein
Gesicht blieb ernst. Fräulein Ulkigs Frage überhörend
gegenfragte ich: Sie haben also doch Mut gehabt,
Fräulein und sind allein gekommen? Nein,
meine Frau war mitgekommen, hat Sie beobachtet und ist
dann gegangen; ich getaute mir nur nicht hier an den
Tisch.
Nun Fräulein Ulkig, Se machen mir in Ihrem
Brief gleich so ein Angebot wenn ich etwas brauchen
sollte usw. Zu Ihrer Beruhigung will ich Ihnen sagen, ich
brauche weder so, noch so etwas. Ich wünsche mir nur
eine nette, fleißige Frau. Geld habe ich allein und eine
sechzehnjährige hübsche Tochter auch.
Ich habe Kinder sehr gern und arbeite von
früh bis spät in die Nacht, nur Mittwochs und
Sonnabends gehe ich abends in die Bibelstunde, das dauert
etwa bis 10 Uhr. Das Mädchen würde ich gern mitnehmen,
da würden Sie sich doch bestimmt freuen?
Natürlich, Fräulein Ulkig, das ist mir recht
angenehm, an diesen Abenden habe ich meine Skatabende,
das passt ja ausgezeichnet.
Fräulein Ulkig, ganz entsetzt und energisch:
So was lasse ich erst gar nicht einreißen.
Kartenspiel ist der Untergang jeder Familie. Mein Erbteil
von der Mutter und meine Ersparnisse würden dabei doch
nur draufgehen. Sie müssen mir verstehen, man möchte
doch vor seine Kinder sparen!
Ach, so, Kinder haben sie auch schon, Fräulein? Da
hätte ich ja etwas Arbeit weniger.
Um Gottes Willen, mir ist noch keiner nicht zu nahe
gekommen, das würde doch jeder Mann sofort merken!
Natürlich, man würde sie schon schreien hören,
die Kinder, meine ich. Nun, sagen Sie mir doch einmal,
würden Sie auch zur Bibelstunde gehen, wenn ich nicht
Karten spielen würde?
Fräulein Ulkig wird wieder aufgeregt.
Da brauchen wir uns ja gar nicht erst zu
unterhalten, ich bleibe meinen Bibelforschern treu, da
ist gar nischt zu machen.
Von einem Nachbartischchen hinter einer Säule hatte ich
schon wiederholt ein leises Kichern gehört; ich musste
also langsam Schluß machen.
Das ist richtig von Ihnen Fräulein Ulkig, es ist
ganz meine Ansicht. Wir haben uns kennen gelernt und auch
gleich richtig verstanden.
Kellner, bitte zahlen!
Bitte, zweimal Kaffee und Kuchen, macht 1,60
inklusive 1,76 RM.
Ich zahlte 1,80 RM und verabschiedete mich mit einem
mitleidigen Empfinden von der frommen Selma. Sie ging
trotzdem weiter neben mir.
Wollen wir denn gleich
am ersten Tage so auseinandergehen? Ich meine es doch nur
gut, und wenn Sie nicht hoch spielen, würden wir uns
schon gut verstehen.
Sehen Sie, Fräulein Ulkig, ich spiele auch
manchmal hoch, sagte ich im Weiterschreiten zur
Straßenbahnhaltestelle, heute spielen wir bei
einem Freunde, der wohnt im vierten Stock.
Inzwischen bin ich an der Haltestelle angelangt und
springe auf den in der Anfahrt befindlichen Wagen, von wo
ich der verdutzt nachsehenden frommen Selma freundlich
zuwinke.
Ich fahre nicht zur Skatpartie und kenne die Karten auch
kaum. Ob Fräulein Ulkig nicht doch noch einen Mann für
12000 Mark bekommen hat?
4. Brief:
|
Sehr geehrter Herr !
Mit großem Interesse las ich Ihr Inserat.
Ich wäre nicht abgeneigt, Ihre werte
Bekanntschaft zu machen. Ich bin vierzig Jahre
alt, gesund, von ansprechender Figur und spiele
auch etwas Klavier. Zur Zeit betätige ich mich
im Haushalt meines Onkels, des Pfarrers R. .
Bisher habe ich alle Möglichkeiten einer Ehe an
mir vorbeigehen lassen, da ich nur eine Ehe
eingehen möchte, die auf Achtung, Liebe und
Gegenliebe aufgebaut ist. Ich glaube fest daran,
dass solches auch auf diesem Wege möglich sein
wird. Ich bin in der Lage, die Festigkeit einer
Ehe mit einem kleinen Vermögen von etwa 17000
Mark zu untermauern. Ein Bild kann ich leider
nicht beifügen. Ihrer gefl. Rückschrift sehe
ich gern entgegen, bitte aber nicht anonym. |
|
Die Art des Schreibens
rechtfertigte auch einen Versuch ohne Bild. Also musste
wieder einmal das bewusste Buch im grünen Umschlag die
Bekanntschaft vermitteln. Dieses Mal war es der
Erfrischungsraum eines großen Berliner Warenhauses im
Berliner Westen, in dem das Stelldichein verabredet wurde.
Von einer kleinen Estrade des Erfrischungsraumes hatte
ich einen guten Überblick. Bald bemerkte ich, wie sich
ein hübsches Mädchen von wirklich guter Erscheinung
meinem Platze näherte. Ich hatte ihre suchenden Blicke
beobachtet, erhob mich schon vor dem Herantreten des
Mädchens und begrüßte sie wie eine alte Bekannte.
Dadurch war der heiklen Situation schon gleich die Spitze
gebrochen. Es wurde ein recht angeregtes, interessantes
Plauderstündchen über Ehefragen, an das ich gern
zurückdenke. Fräulein Schön bat um eine Bedenkzeit
wegen der vorhandenen sechzehnjährigen Tochter, das
konnte ich auch voll verstehen.
Als ich nach acht Wochen um eine weitere Rücksprache
gebeten wurde, war es schon zu spät, da eine
Entscheidung bereits in näherer Aussicht stand. Wieder
einmal hatte ein wirklich hübsches und geistreiches
älteres Mädchen eine Möglichkeit vorüber gehen lassen,
vielleicht sucht sie auch heute noch.
5. Brief:
|
Sehr geehrter Herr !
Ich bin Rentnerin mit einer Witwenpension von
monatlich 200 Mark, gesund und noch sehr
warmblütig. Ich möchte sehr gern eine
Ehebekanntschaft machen, wohlgemerkt
keine Ehe eingehn, um die Pension nicht zu
verlieren. Ich bewohne in D. eine
Vierzimmerwohnung im eigenen Häuschen, mit einem
600 qm großen Garten. Wir könnten beide auch
ohne Standesamt gut zusammenleben. Verkaufen Sie
Ihre Einrichtung, soweit diese bei mir keine
Aufstellung finden kann. Den Lebensunterhalt
können wir zu gleichen Teilen bestreiten. Bitte
schreiben Sie mir Ihre persönlichen
Verhältnisse mit nachzuprüfenden Angaben. Unter
den vorliegenden Umständen möchte ich Ihnen
meine Adresse nicht preisgeben, ohne die Ihre zu
kennen. Sowie ich Ihre Angaben geprüft habe,
stehe ich mit den meinen zur Verfügung. Ich bin
frei, offen und ehrlich.
Sollten Sie die gleichen Eigenschaften besitzen,
so wäre ein selten harmonisches Zusammenleben
gewährleistet. |
|
Hier war die Bezeichnung
Ehebekanntschaft zu wörtlich aufgefasst
worden und entsprach nicht meiner Auffassung über die
Ehe. Also wieder nichts.
Die für mich entscheidende Zuschrift kann ich mit
Rücksicht auf meine Eheliebste nicht profanieren. Die
Auskunft, die ich erhielt, lautete: Frau S. ist
hier als sehr solide, fleißige und sparsame Hausfrau mit
bestem Leumund bekannt. Kinder sind aus der für die
Ehefrau schuldlos geschiedenen Ehe nicht vorhanden.
Einige Ersparnisse dürften vorhanden sein.
Also auf diese Frau fiel bitte nach ihren eigenen
Angaben das große Los. Obs wahr ist,
möchte ich fast selbst bezweifeln.
Die zweite Ehe wurde das, was sie versprach, eine auf
guter Grundlage aufgebaute Vernunftehe, nicht so unruhig
wie die erste, bei der Mutter Sorge aus allen Ecken
grinsend gastiert hatte.......
Jahre waren vergangen. Im Dienst hatte ich mich vom
Streckenarbeiter bis zum Oberbahnhofsvorsteher
emporgearbeitet, da begann der zweite furchtbare
Weltkrieg in seinen ungeahnten Ausmaßen.
Zirka dreißig Millionen Menschen wurden hingeschlachtet,
ebenso viele Menschen wurden verstümmelt und das
vielfache dieser Millionen wurde in tiefste Trauer
versetzt. Wie aber war dieser Krieg möglich geworden?
Er hat auch in mein Leben tief eingeschnitten, daher soll
in dieser Erzählung auch etwas aus dieser Zeitepoche
erwähnt werden.
Der mit unglaublicher Suggestionskraft ausgestattete
Ausländer Hitler hatte es fertiggebracht, sich an die
Spitze des Deutschen Volkes zu stellen und diesem noch
vom ersten Weltkriege heimgesuchten Volke den Himmel auf
Erden zu versprechen. Diesen Versprechungen kam die
innere Zerrissenheit Deutschlands, die Arbeitslosigkeit
und der Hunger zugute.
Die Beseitigung dieser Übel, wenn auch immer auf
des Messers Schneide brachte dem ausländischen
Naziführer unglaubliche Massen von Anhängern und
veranlasste diesen selbst zur politischen Uferlosigkeit,
die das Deutsche Volk ins Verderben stürzte. Hitler
verfiel in den Wahn der Unfehlbarkeit und steckte damit
auch seine Berater an. Es konnte sich wohl nur um eine
Wahnsinnsepidemie handeln, aus der kaum einer der
Verantwortlichen heil herausgekomen ist.....
Als Deutschland in seinen Anfangserfolgen bis zur
Niederringung Frankreichs gekommen war und durch die
Vertragspartner im Rücken gestärkt wurde, glaubte das
Deutsche Volk und glaubte auch noch Hitler an einen
deutschen Sieg. Als aber England den deutschen
Friedensfühler überging und Jugoslawien sich gegen
Deutschland stellte, da war es der deutschen Führung
schon klar, dass der Krieg für Deutschland verloren war.
Hier begann das größte Verbrechen Hitlers, der in
seiner Angst jeden einzelnen Deutschen bis zum letzten
Kinde geopfert hätte. Der Verbrecher und
Antisemitenhäuptling Goebbels brachte es durch die dem
deutschen Volke unwürdigste Kulturschande der
Judenverfolgungen und der maßlosen Judenmorde zur
Ächtung Deutschlands durch die gesamten Völker der Erde.
Wo blieb da die Frömmigkeit der
Parteigrößen, die von Unwissenden so oft im Rundfunk
bestaunt, von den Wissenden aber schon längst erkannt
wurde?
Diese feige Frömmigkeit hatte zur Folge, dass
hunderttausende Deutscher die Religionspolitik
durchschauten und danach handelten.
Es gibt für diese Menschen keine Katholiken,
Protestanten, Juden und Andersgläubige mehr, es gibt
für sie nur noch Menschen.
Es wäre nur zu begrüßen, wenn es für die Völker
keine Amerikaner, Deutsche, Engländer, Russen and andere
Nationen, sondern ebenfalls nur noch Menschen gäbe,
vereint unter einem Zepter, um so jeden völkermordenden
Krieg zur Unmöglichkeit zu machen.
In seinem Größenwahn fiel
Hitler seinen Vertragsverbündeten, der Sowjetunion in
den Rücken. Diese Handlung schlug seiner eigenen Politik
des Festhaltens am Bismarckschen Vermächtnis ins Gesicht,
das eine dauernde Freundschaft mit Russland und dem
russischen Volke forderte.
Wie dem auch sei, die Welt kann mit Recht behaupten:
Hitler und seine Berater haben die heiligsten
Verträge wie einen Fetzen Papier behandelt und das
Deutsche Volk in ihrer eigenen infernalistischen Angst
mit offenen Augen in einen katastrophalen Abgrund
gestürzt.
Das weniger große Verbrechen Josef Goebbels, die
Herbeiführung eines Volksentscheides wurde
zur erbärmlichsten Lügenhandlung am Deutschen Volke
selbst. Auf diesen Volksbetrug müssen auch die ersten
ernsten Zerfallserscheinungen der Nazipartei
zurückgeführt werden.
Was hatte es mich trotz aller Ermahnungen an jahrelanger
Überwindung gekostet, ehe ich den größenwahnsinnigen
abstrakten Hitlergruß gezwungen über die Lippen brachte.
Dieser Gruß glich doch so recht dem Grußzwange der
Tiroler, gegenüber den auf einem Stecken gestülpten Hut
Kesslers in Wilhelm Tell. Dabei erinnere ich
mich eines recht unangenehmen Erlebnisses, das ich in
Berchtesgaden hatte.
Ich verlebte schon vor Hitlers Zeiten meinen
alljährlichen Urlaub mit meiner Familie in Berchtesgaden.
Der uralte anheimelnde Bayerngruß Grüß
Gott brachte so recht die Herzlichkeit und
Gemütlichkeit zum Ausdruck.
Noch im Jahre 1939 konnte ich beobachten, dass
hauptsächlich ältere Leute den Hitlergruß kaum
beachteten und nur selten darauf reagierten, währen ein
Grüß Gott stets freundlich erwidert wurde.
Letzteren Gruß hatten wir uns sehr angewöhnt. So betrat
ich eines Tages ein bekanntes Lokal und entbot meinen
Gruß. Dieser Gruß missfiel einem Übernazisten. Er trat
an mich heran und belehrte mich mit einer überheblichen
Geste, dass Heil Hitler jedem anderen Gruße
vorauszusetzen sei. Solch schamlose Ministerialverfügung
existierte seiner Zeit tatsächlich und wurde den Beamten
in kurzen Zwischenräumen immer wieder bekannt gegeben.
Ich war fürs erste sehr verdutzt und muß wohl ein
dummes Gesicht gemacht haben, doch dann hatte mich der
nie erlahmende Humor wieder gepackt. Mit einem Heil
Hitler, Grüß Gott, Guten
Abend Auf Wiedersehen ! verließ ich
das Lokal wieder, ohne mich erst gesetzt zu haben. Ich
hörte noch ein Gelächter hinter mir; jedenfalls aber
dürfte mein Gruß nunmehr richtig
ausgefallen sein. Der alte Kämpfer aber war
seinerseits an der Reihe, ein dummes Gesicht zu machen.
Es ist schon richtig, ohne die unglaubliche
Suggestivkraft Hitlers und ohne die Skrupellosigkeit
seiner verbrecherischen Berater wäre die Nazipartei
niemals zu solch furchtbarer Macht angewachsen. Ich hatte
oft Gelegenheit, mich von dieser Tatsache persönlich zu
überzeugen.
Als Aufsichtsbeamter eines großen Berliner Fernbahnhofs
mit internationalem Verkehr hatte ich verschiedentlich
Rücksprachen mit Literaten vom Fach genommen. Meine
Vermutungen über die Möglichkeiten einer
Massensuggestion wurden mir unzweifelhaft bestätigt.
Wir bekamen aus einigen hundert Kilometern Entfernung
Besuch, einzig zu dem Zwecke, Hitler persönlich zu sehen,
und ich musste mich zum Bauernführer entschließen. Nach
endlosen Zurufen erschien Hitler mit seiner
Suite auf dem Balkon in der Wilhelmstraße.
Man konnte sich in einem Irrenhaus wähnen, so frenetisch
benahm sich die Masse. Niemand ahnte, welches Elend diese
Balkonparaden über das Deutsche Volk bringen mussten. In
dieser Beziehung war der Wilhelmplatz für Psychologen
und Physiologen das größte Betätigungsfeld
wissenschaftlicher Forschungen auf diesem Gebiete.
Der Freundschaftspakt mit der Sowjetunion war zwar von
Anfang an ein politisches Natternspiel Hitlers, er
brachte aber dieser Nazipartei noch den letzten Rest von
Skeptikern, die Hitlern schon seit Jahren zwangsweise
verpflichtet waren und zog sie in die Folgen des
Vertragsbruches und des deutschen Zusammenbruchs mit
hinein......
Mein Traum, eine selbständige Dienststelle zu erhalten,
hatte sich erfüllt. Ich hatte es durch fleißiges
Studium bis zum Oberbahnhofsvorsteher geschafft, einer
Stellung, die sonst nur für die
Militäranwärter vorgesehen war. Wenn es
auch eines dreißigjährigen Dienstes bedurft hatte, ich
war stolz darauf.
In dieser Zeit fiel der Ausbruch des zweiten Weltkrieges
mit seinem furchtbaren Völkermorden. Ich machte diesen
unverantwortlichen Krieg nicht lange mit. 1940 erkrankte
ich und erreichte 1942 nach größten Schwierigkeiten
meine Pensionierung. Zur Zeit schwerer Bombenangriffe
wurde mir in Berlin eine Wohnung angewiesen. 1943 mußte
ich mit meiner Frau Berlin verlassen. Wir landeten in
einem Dorfe Mitteldeutschlands (Neussen bei Torgau) bei
Verwandten (Onkel Max und Tante Berta), wo wir den
Zusammenbruch Hitlerdeutschlands erlebten.
So saßen wir am 24. April 1945 abends, die Gedanken
sorgenvoll nach dem Osten gerichtet, in unserem mehr als
bescheidenen Stübchen und warteten der Dinge, die da
kommen mussten, als eine Hiobsbotschaft in unser Heim
schwirrte: Fluchtbereit halten, Trecks
zusammenstellen, Russen im Angriff auf Torgau und die
Elbestellungen. Ei Fliegeralarm abrücken in Richtung
Sitzenroda!
Überängstliche verließen, ohne den Alarm abzuwarten
das Dorf. Mutigere packten die allernötigsten Sachen,
meistens mehr als die fragwürdigen Wägelchen aushalten
konnten, und erwarteten schlaflos den Alarm. Besonnene
und solche, die nichts zu efürchten hatten, blieben im
Dorfe.
Endlich, am 25. April früh 5 Uhr wurde Alarm gegeben.
Zehn Minuten später rückten die ersten Pferde-, Ochsen-
und Menschengespanne zum Dorfe hinaus. Für manche
Flüchtlinge war es schon die dritte oder gar vierte
Flucht vor der Kriegsfurie.
Nach dreistündigem Marsche mancher Teilnehmer lag
mit seiner Überlast schon zusammengebrochen im Graben
wurde uns bekannt, dass wir bereits eingekesselt
wären, eine weitere Flucht daher zwecklos sei.
Plünderungen der zurückliegenden Dörfer durch die
freigewordenen Gefangenen seien im Gange. Schließlich
wurde die Wahrheit bekannt: Die Nazis hatten blinden
Alarm gegeben, damit sich die Parteileitung erst einmal
selbst in Sicherheit bringen konnte. Die Furcht vor der
aufgehenden Saat hatte sie in die wildeste Flucht
getrieben.
Gegen Abend kehrten die meisten der Geflüchteten in das
Dorf zurück, um nicht im Freien übernachten zu müssen.
Nach einigen Tagen waren fast alle Bewohner
zurückgekehrt.....
Das Kampfgetöse kam näher und näher. Feindliche
Flugzeuge stürzten sich auf Torgau und versenkten die
auf der Elbe legenden Lastkähne mit ihren wertvollen
Frachten. Explosionen ertönten, Brände stiegen empor,
das Dorf selbst wurde vom Kampf verschont.
Unübersehbare Menschenmengen eines aufgelösten
Gefangenenlagers Soldaten aller Nationen
von deutschen Soldaten eskortiert, schleppten sich müde
und ermattet durchs Dorf. Manches Stück Brot, mancher
Schluck Wasser wurden trotz Verbotes den
Dahinschleichenden von anständig denkenden Bewohnern
zugesteckt, manche Träne in den Augenwinkeln zerdrückt.
Es waren ja doch alles Menschen, schwergeprüfte
unglückliche Menschen, die vielleicht schon jahrelang
von ihren Liebsten getrennt waren und deren Schicksal sie
nicht kannten. Hatte nicht jeder von uns Deutschen auch
Angehörige im Felde, wie mochte es denen ergehen?
Deutsche Truppen, zum größten Teil ohne Waffen, folgten
den Gefangenen in den nächsten Tagen nach. Die
Auflösung der deutschen Armee machte sich bemerkbar.
Bald kam die erlösende Nachricht Torgau hat sich
dem Feinde kampflos ergeben!
Die Gewissheit, dass Torgaus
Widerstand weitere Tausende an Opfern gefordert und die
Stadt selbst vernichtet hätte, ließ die deutsche
Verteidigung in kluger Einsicht handeln.
Die Vorhuten der roten Armee rückten heran; vereinzelt
wagten sich weiße Fahnen heraus. Die russische
Besatzungsarmee durchzog mit schweren und schwersten
Panzern und Geschützen Tag und Nacht das Dorf. Die
Häuser standen unter ständiger Erschütterung. Die
Bewohner hielten sich zum Teil in den unmöglichsten
Verstecken auf.
Das Dorf und seine umliegenden Hügel wurden auf Wochen
vom Feinde besetzt, Neussen war Kriegsgebiet geworden.
Die kriegs- und sieggewohnten feindlichen Truppen
jahrelang von ihrer Heimat entfernt machten von
ihrem Kriegsrecht Gebrauch. Sie führten russische Sitten
und Gebräuche ein und rächten sich für die angeblichen
Vergewaltigungen russischer Frauen und Mädchen durch
deutsche Truppen. Es war eben Krieg.
Der Bürgermeister musste sein Leben im Dienste der
Hitlerregierung lassen.
Die Rote Armee musste bevorzugt mit allen
Erforderlichen versorgt werden. Die Ernährungslage wurde
daher erheblich schwieriger.
Zur rechten Zeit wurde ein neuer Bürgermeister
eingeschaltet, dem selbst seine Gegner Achtung und
Anerkennung zollen müssen. In schwersten Notzeiten, wie
sie das Dorf noch nie kennen gelernt hatte, gelang es ihm,
einen Gleichklang in den plötzlichen Umschwung zu
schaffen. In manch kritischer Lage setzte er sich
trotz eigener Lebensbedrohung unterschiedslos für die
Dorfbewohner, die ihn zum Schutz anriefen, ein. Dieses
für die schwere Zeit beruhigende und mutige Verhalten
des Bürgermeisters verdient für spätere Zeiten
festgehalten zu werden und ist dazu angetan, eine Seite
der Dorfchronik zu zieren.
Hier im Dorfe war es, wo ich im wirren Durcheinander
wieder zur Feder griff, um die unvergesslichen
Begebenheiten den späteren Bewohnern in dem Rezitat
Die Saat geht auf in Erinnerung zu bringen.
Nach neun Wochen nachkriegszeitlichen Erlebens fasste
mich die Sehnsucht nach meinen Berliner Kindern und
meinem Berliner Heim wie mochte es nach der
Achttageschlacht um Berlin wohl aussehen. Hatten die
Kinder alles überstanden oder ruhten sie gar schon in
kühler Erde -?
Sorgenvoll und gesundheitlich heruntergewirtschaftet
packte ich mir für fünfzehn Tage Lebensmittel
etwa vierzig Pfund in meinen Rucksack. Sechs Tage
gingen für die Hin- und Rückreise verloren. Mit der
Eisenbahn, teils in offenen Wagen und zu Fuß über
herabhängende Brücken, an zerschossenen Städtern und
Dörfern vorbei, ging die schwere Tour vor sich.
Stöhnend und dem Zusammenbruch nahe, schleppte ich mich
trotz schweren Fußleidens mit der Last im Rucksack von
Etappe zu Etappe.
Wo es wieder mit der Eisenbahn weiterging, saßen die
nach Hause drängenden Volksgenossen auf Trittbrettern
und Dächern. Wer Glück hatte und in einem Personenwagen
unterkam, saß nicht viel besser, denn die
Fensterscheiben waren durchweg zertrümmert. Große
Handwagen, schwer beladen, waren zwischen den Wagen quer
über die Puffer geladen. Unterwegs kreuzten wir mit
russischen Militärfahrzeugen. Wie oft fiel da für einen
Teil der Heimdrängenden ein warmes, kräftiges Essen aus
der russischen Feldküche ab.
Der Zug fuhr nur bis Lankwitz (Berliner Vorort), von dort
aus musste jeder zusehen, wie er in das zertrümmerte,
einem Schutthaufen gleichende Berlin hereinkam.
Diesen Weg werde ich nie vergessen. Ich will ihn, soweit
er mich persönlich betrifft, zu schildern versuchen.
Es war am dritten Tage der Heimreise, vormittags 11 Uhr,
als ich im Alter von sechsundsechzig Jahren und einer
schweren Last auf dem Rücken, vollständig zermürbt und
aufgerieben den Bahnsteig in Lankwitz mit dem Ziele
Berlin-Pankow verließ. Vorbei an Trümmerhaufen und
Schutthalden kam ich bis zu einer gesprengten, in einem
steilen Winkel von etwa 45 Grad in die Spree hängenden
Brücke.
Da, wo die niederhängende Brücke in der Spree
verschwand, waren einige Bretter ohne jede
Schutzvorrichtung zum jenseitigen Ufer gelegt. Eich
Schauer durchrieselte mich, diesen primitiven Notbehelf
überschreite zu müssen. Alte Frauen und Männer,
Mütter mit Kinderwagen, die sich gegenseitig einer
hinter dem anderen über den gefährlichen Steg halfen,
erreichten in Angst und Sorge das jenseitige Ufer; also
musste auch ich es schaffen -, und es ging.
Es war ein schöner Tag, der 27.
Juni 1945. Die wärmende Sonne tat den von zwei
schlaflosen Nächten durchschüttelten und fröstelnden
Körper wohl. Die vom wolkenlos blauen Himmel auf das
frische Grün der Bäume fallenden Sonnenstrahlen
kontrastierten zwar scharf mit den in Trümmern liegenden
Häuserreihen, und doch ließ dieser Tag ein
hoffnungsfrohes Ahnen aufkommen: Auch das wird
einst im alten Glanz wiedererstehen und vergessen
werden.
Eine weitere Stunde schleppte ich mich mehr als ich ging,
bis zum Untergrundbahnhof am Tempelhofer Feld. Von hier
konnte ich nach fünfmaligem Umsteigen, Überklettern von
Hindernissen und Durchwaten überschwemmter
Untergrundbahnsteige bis zur Danziger Straße gelangen.
Ein furchtbarer Moder- und Verwesungsgeruch hatte sich in
den Untergrundbahnschächten, die mit abertausenden von
Menschen überflutet worden waren und deren Leichen
wochenlang im Wasser gelegen hatten, schaudernd bemerkbar
gemacht.
Nach einem weiteren Fußmarsch von etwa dreiviertel
Stunde, stand ich endlich in Pankow am Eingang von der
Berliner in die Borkumstraße. Trümmer, Trümmer und
wieder Trümmer umgrenzten das Blickfeld bis zum Eckhaus
der Sellinstraße, in dem sich die Wohnung meiner Kinder
befand. Das Herz klopfte mir schwer vor Überanstrengung,
jetzt glaubte ich, meine Füße nicht mehr weitersetzen
zu dürfen, sollte ich vor Weh nicht
zusammenbrechen.
Die großen alten Straßenbäume ließen eine freie Sicht
nicht zu, das in Frage kommende Eckhaus konnte ich daher
noch nicht Bestimmtheit ausmachen. Ich riß mich zusammen
und schritt weiter, einmal musste es sein. Näher und
näher kam ich dem Hause. Ein innerlicher Jubel ergriff
mich, das Haus stand noch, vielleicht lebten auch meine
Angehörigen -!
Im Hausflur traf ich eine Hausbewohnerin:
Leben meine Kinder noch? brachte ich
zerkrampft über meine Lippen, ohne vorher an einen Gruß
zu denken. Es war mehr Angstausruf als eine Frage.
Ja, sie leben noch, nur Ihre Tochter hat
während der Kampftage ein schwere, fast hoffnungslose
Dyphterie durchgemacht und ist wie durch ein Wunder
gerettet worden. Es ist niemand Ihrer Angehörigen daheim.
Ihr Sohn ist noch nicht aus dem Felde zurück. Bitte,
treten Sie doch bei uns ein. Unser Junge wird sofort Ihre
Schwiegertochter herbeirufen.
Schwankend betrat ich die beschädigte Wohnung und sank
kraftlos auf einen Stuhl nieder. Zwei Paar Stullen und
ein warmes Russenessen hatte ich in den drei Tagen meiner
Reise zu mir genommen. Die Vorräte im Rucksack waren
noch nicht angerissen. Tränen der Ergriffenheit, der
Freude und Erleichterung liefen mir übers Gesicht. Bald
kamen die Angehörigen, auch ihnen wurden die Augen
feucht, als sie sich ihrem Vater in solch erschöpften
Zustande gegenüber sahen. Trotz all dem Schweren, was
hinter uns lag, war es ein Tag, der unsere Herzen mit
Dank gegen ein unbekanntes höheres Wesen erfüllte.
Wie begaben uns in die Wohnung der Tochter und
schütteten gegenseitig unsere Herzen aus. Währenddessen
entleerte ich meinen Rucksack. Mit Hilfe befreundeter
Dorfbewohner, denen ich mit meiner Frau nach besten
Kräften geholfen hatte, war es mir möglich gewesen,
meine Reisevorräte überreichlich zu gestalten und meine
Kinder mit den für diese Notzeit herrlichsten
Leckerbissen zu versehen. Dazu gehörten, wenn auch nur
in sehr bescheidenen Mengen, Wurst, Fleisch, Butter,
Speck, Schinken, Eier, Käse, Trockenobst, Marmelade,
Zucker, Mehl und Kartoffeln.
Vater, gibts denn so etwas auch noch, und das
sollen wir Dir wegessen, wo Du so krank aussiehst?
Wie sie selbst aussahen, schienen sie nicht u bemerken.
Ich zwängte alles den Kindern auf und zehrte nur weniges
von ihrem dürftigen Vorrat. Wußte ich mich doch schon
in einigen Tagen wieder daheim, wo es noch ausreichen d
Kartoffeln gab.
Vier Tage hatte ich in Berlin behördlich zu tun. Was ich
in dieser Zeit an Zerstörungen wahrnehmen musste, ist
mit bloßen Worten nicht zu schildern. Der zehnte Teil
von allem dürfte genügt haben, um selbst den
fanatischsten Nazianhänger in das Gegenteil zu
verwandeln.
Meine Dienstwohnung musste nunmehr mit zwei aktiven
Eisenbahnerfamilien belegt werden. Ich selbst zog mich
auf meine Flüchtlingsstelle nach dem Lande zurück.
Vielleicht ist es mir vergönnt, auch meinen einzigen
Sohn wiederzusehen.
Mit der ganzen mir noch zu Gebote stehenden geistigen
Kraft werde ich mich trotz meines Alters wieder mit
schriftstellerischen Arbeiten beschäftigen und so meinen
Anteil an der Wiederaufrichtung der deutschen
Volksgenossen beitragen. Möge diese Erzählung der
erste Baustein dazu sein und den lieben Lesern die auf
ihnen lastenden Sorgen über manche Feierabendstunde
vergessen machen.
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